aus:
Rosenbrock, Rolf/ Salmen, Andreas (Hrsg.), 1990: Aids-Prävention.
Berlin:
sigma, 257 - 274 .
Roland
Czada und Heidi Friedrich-Czada
Aids als politisches Konfliktfeld
und Verwaltungsproblem
Einige
der schlimmsten Übergriffe gegen Minderheiten sind, durch das Altertum
bis heute, im Namen der öffentlichen Gesundheit begangen worden.
Die
Konfliktlinien in der Aids-Politik überlappen sich mehrfach. Das Interesse
an umgehender staatlicher Reaktion artikulieren die Verfechter traditioneller
Seuchenpolitik, wie sie in konservativen und klerikalen Kreisen zu finden
sind, ebenso wie die technokratischen "Macher" einer sozialmedizinischen
Präventionsstrategie. Auch innerhalb der Betroffenengruppen findet sich
Kritik an der Untätigkeit staatlicher Behörden oder einer Verzögerung
in der Aids-Politik. So berichtet Altmann (1988) von den Forderungen amerikanischer
Aids-Hilfe Gruppen nach raschen staatlichen Hilfen und von harscher Kritik
an der Untätigkeit der amerikanischen Gesundheitsverwaltung. Vielerorts
forderten auch Prosituierte ein schnelles Eingreifen, um ihr Gewerbe vor
der Infektion zu schützen. In allen genannten Gruppen finden sich freilich
auch jene, die zur Zurückhaltung des Staates mahnen, teils zugunsten gesellschaftlicher
Selbstorganisation, teils aus liberaler Überzeugung oder Furcht vor staatlichen
Überreaktionen, teils aus Gründen moralischer Entrüstung. In den USA
polemisierten religiöse Fundamentalisten der "Moral Majority" dagegen,
"Steuern für Forschungen auszugeben, die es den siechen Homosexuellen
erlauben, sich weiterhin verantwortungslos ihren perversen Praktiken hinzugeben" [3].
Hier wird mit dem Hinweis auf individuelles Verschulden die Unzuständigkeit
staatlicher Politik behauptet. Man sieht, der politische Aids-Konflikt
läßt sich nur vordergründig einem links-rechts Schema unterordnen. Der
im internationalen Vergleich völlig fehlende Zusammenhang von parteipolitischer
Regierungszusammensetzung und Strategien der Aids-Politik unterstreicht
diese Überlegung: Der Maßnahmenkatalog der bayerischen CSU-Regierung
steht der "konzertierten" Aids-Politik im sozialdemokratischen Schweden
und dem österreichischen Aids-Gesetz von 1986 näher, als den liberalen
Reaktionen oder gar "Nicht-Entscheidungen" der neokonservativen britischen
oder amerikanischen Regierungen.
1. Das Beipiel USA
Analysen
zur Aids-Politik in den USA kommen zu dem Ergebnis, daß Reaktionsverzögerungen
und ausbleibende Zwangseingriffe auf die Distanz des Staates zur Gesellschaft
und auf die Fragmentierung politischer Zuständigkeiten zurückzuführen
seien (vgl. Altmann 1988, Panem 1988, Fox 1988). Insbesondere die Gegnerschaft
von Verwaltungsbehörden und Kongressausschüssen, Rivalitäten zwischen
Abteilungen im Gesundheitsministerium, Fehlende Zuständigkeits- und Veranwortungszuweisung
zwischen Ämtern auf verschiedenen Regierungsebenen und nur informelle
Abstimmungen zwischen dem öffentlichen und privaten Sektor werden als
Gründe für die späte politische Reaktion auf Aids in den USA genannt.Bundesstaatliche
Direktiven an die Gesundheitsverwaltungen (Public Health Services) zur
"Prävention und Kontrolle von AIDS und dem AIDS-Virus" ergingen erstmals
1986. Die Einzelstaaten, denen faktisch allein die Entscheidung und Ausführung
einer Meldepflicht zukommt, reagierten meist noch später [4].
Die Rechtslage variiert so stark, daß in einigen Bundesstaaten der Erlass
einer Verwaltungsanordnung genügt, um eine Meldepflicht einzuführen,
während andere gezwungen wären hierfür ein eigenes Gesetz zu verabschieden.
Auf diese Weise können einige Teilstaaten rasch entscheiden, während
andere Monate oder gar Jahre benötigen. Der politische Prozess, durch
den eine epidemische Krankheit meldepflichtig wird erfordert die freiwillige
Kooperation einer Unzahl von Institutionen, von denen jede ihre eigenen
Verfahrensregeln anwendet.Die meisten Bundesstaaten der USA haben keine,
oder, im Vergleich zu Italien, Österreich oder Norwegen, sehr spät eine
anonyme Meldepflicht eingeführt (z.B. Florida, Illinois). Nur vereinzelt
wurden Gesundheitsbehörden ermächtigt, spezielle Tests und Erziehungsmaßnahmen
gegenüber AIDS Infizierten zu erzwingen (Minnesota). In Utah wurde mit
Gesetz vom 17.4.1987 die Eheschließung mit AIDS-Infizierten untersagt,
und gleichzeitig die Nichtigkeitserklärung bereits geschlossener Ehen
ermöglicht. 1987 verfügten neun US-Staaten über ein Aids-Register mit
namentlicher Nennung von HIV-Positiven. In zwei von ihnen, Colorado und
Idaho, werden die Namen benutzt, um über die Rekonstruktion von Sexualkontakten
Infektionswege aufzuspüren (Fox 1988;328) [5].Die
eingriffintensivsten Maßnahmen wurden meist dort ergriffen, wo AIDS ein
vergleichsweise untergeordnetes Problem darstellt. Würde der Zusammenhang
von Problemdruck und administrativer Eingriffsintensität gelten, so hätten
Californien und New York am ehesten so vorgehen müssen. Dies unterstützt
die These, daß es sich bei administrativen und insbesondere strafbedrohten
Präventionsmaßnahmen gegen AIDS oft um symbolische Politik handelt. Offenbar
stand hier nicht die Lösung des Problems im Vordergrund, sondern die politische
Signalwirkung einer Entscheidung, deren praktische Umsetzung vergleichsweise
folgenlos bleiben sollte.
2. Symbolische Aids-Politik
Symbolische
Politik basiert auf der Ritualisierung politischer Konflikte. Sie reduziert
politische Inhalte auf Symbole und führt so zur Entsachlichung von Entscheidungen.
Ihre wesentliche Funktion besteht darin, den politischen Wettbewerb zu
vereinfachen und Gefolgschaft zu mobilisieren, ohne folgenreiche materielle
Verpflichtungen eingehen zu müssen.Ganz offenkundig wird der Aspekt symbolischer
Politik in jenen Ländern, die sehr früh, noch ehe das HIV-Virus zweifelsfrei
entdeckt war, mit einfachen Verwaltungsanordnungen reagierten. 1982 verbreitete
sich aufgrund epidemologischer Studien die Aufassung, daß es sich bei
AIDS um eine ansteckende Infektionskrankheit handelt, und im Februar 1983
berichtete Robert Gallo vor einem amerikanischen AIDS-workshop in Cold
Spring Harbor, daß AIDS wahrscheinlich von einem Retrovirus verursacht
wird [7].
Nur einen Monat später, am 16. März 1983, gab das Österreichische Ministerium
für Gesundheit und Umwelt einen Verwaltungserlass heraus, in dem die Erfassung
akuter AIDS-Fälle und weitere Maßnahmen angeordnet werden. Italien folgte
als zweites Land am 3. August 1983 mit einer gleichen Anweisung, Norwegen
als drittes am 23. August 1983 mit der Anwendung bestehender seuchengesetzlicher
Vorschriften und Frankreich am 26. August 1983 als viertes Land mit regierungsamtlichen
Verhaltensmaßregeln im Umgang mit AIDS-Erkrankten [8].
Die Reaktionen der übrigen Länder beschränkten sich zu diesem frühen
Zeitpunkt auf öffentliche Verlautbarungen, die Einsetzung von Expertenkommissionen,
und die Vergabe von Forschungsmitteln.Nach Daten der WHO war 1983 in drei
dieser vier am raschesten reagierenden Länder die Zahl der bekannten AIDS-Fälle
so gering, daß von einer akuten Gesundheitsgefährdung nicht gesprochen
werden kann (In Norwegen wurden 1983 zwei Fälle bekannt, in Italien vier
und in Österreich sieben). Dies gilt vor allem im Vergleich zu der wesentlich
höheren Betroffenheit in der Schweiz, Dänemark oder einigen amerikanischen
Städten, deren Verwaltungen im Umgang mit AIDS bis 1988 mit Ausnahme weniger
US-Bundesstaaten keinen speziellen Reglements unterworfen waren. Administrativen
Reaktionen in einer Situation minderen Problemdrucks und in einem Stadium
weitgehender Unsicherheit über den epidemologischen Verlauf sind nur vor
dem Hintergrund politischer Auseinandersetzungen und administrativer Systemmerkmale
verstehbar.Der internationale Vergleich zeigt, daß in unitarischen Systemen
sehr frühe Reaktionen vorherrschen, die weitgehend von dem Ausmaß des
Problems unabhängig erfolgten und sich auf einfache Verwaltungsprogramme
beschränkten, während spätere Maßnahmen, vor allem in Ländern mit
gesundheitspolitisch fragmentierten Zuständigkeitsstrukturen, eher dem
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen und mit Programmen einhergehen,
die sich direkt an gesellschaftliche Adressaten richten. Föderale Strukturen
erschweren gleichzeitig eine nur symbolische gesamtstaatliche Politik,
weil bei autonomer Verwaltungszuständigkeit der Teilstaaten den Interessen
an einer tatsächlichen, wirksamen und reibungslosen Programmimplementation
höhere Bedeutung zukommt. Durch die Überlagerung von Parteienwettbewerb
und bundesstaatlicher Politikverflechtung können außerdem umfassende
Eingriffskonzepte leichter abgeblockt werden als in unitarischen Systemen
mit einer allein zuständigen Mehrheitsregierung [9].Zwei
Länder, die vergleichsweise rasch, aber nicht bürokratisch reagierten
(Schweiz und Niederlande), lassen sich indessen hier nicht einordnen. Betrachtet
man die dortige Präventionsstrategie, wird eine, neben der politischen
Zuständigkeitsstruktur weitere wichtige Determinante der Aids-Politik
erkennbar: die Rolle gesellschaftlicher Selbstorganisation, insbesondere
der verschiedenen Betroffengruppen.
3. Interessenpolitik und Intervention
In den
Niederlanden findet sich eine der im internationalen Vergleich am besten
organisierten Schwulen-Initiativen mit langjährigen Erfahrungen im Umgang
mit Behörden und Regierungen (Altman 1988; 108). Bestehende Kooperationsbeziehungen
konnten hier für die AIDS-Prävention unmittelbar genutzt werden. Der
Bestand von Schwulen-Treffs (Saunen) wurde von den Behörden garantiert
im Gegenzug für die Beteiligung der privaten Betreiber an Aufklärungsaktionen
und "Safer-Sex-Kampagnen", die wiederum weitgehend öffentlich finanziert
sind. Ein ähnliches Vorgehen findet sich im Bereich i.v. Drogenabhängiger.
Auch diese Gruppe ist in den Niederlanden, nicht zuletzt aufgrund der staatlich
geförderten Methadon-Abgabe an registrierte Fixer, politisch organisiert
und für die Aids-Prävention erreichbar, während in allen übrigen Ländern,
die Isolierung und Deprivation i.v. Drogenabhängiger zu einem zentralen
Problem der Aids-Aufklärung und Krankenbetreuung geworden ist.Die Schweiz
gehört zu den Vorreitern einer an die Selbstverantwortung appelierenden
Aids-Politik. Als politisch extrem fragmentiertes Land, müßte sie eigentlich
zu den Nachzüglern der Aids-Prävention gehören. Wie oft entzieht sie
sich aber einer eindeutigen Zuordnung. Die Erklärung liegt hier in den
proporzdemokratisch-korporativen Traditionen eines Systems, dessen Administration
koevolutiv zu gesellschaftlicher Selbstorganisation historisch entstanden
ist, und dessen politische Entfaltungsspielräume in allen Politikbereichen
stark von gesellschaftlicher Selbstorgnisation bestimmt sind. So beantragte
das eidgenössische Gesundheitsamt unmittelbar nach der Gründung eine
Mitgliedschaft in dem privat initiierten schweizer AIDS-Hilfe Verein. Nach
anfänglicher Beobachtung der Gruppe wurden ihr wesentliche Teile der Konzeption
und Ausführung der gesamtschweizer AIDS-Kampagne übertragen. Die Selbsthilfeorganisation
wurde so zu einer parastaatlichen Einrichtung. Dieses Einklinken des eidgenössischen
Gesundheitsamts in die AIDS-Hilfe der Schweiz und die gemeinsame Ausführung
einer im wesentlichen von der AIDS-Hilfe konzipierten Aufklärungskampagne
entspricht nun ganz den Verwaltungstraditionen des Landes [10].Es
ist offensichtlich, daß die schweizer wie auch die niederländischen Erfahrungen
aufgrund unterschiedlicher Staatstraditionen und Defizite der Selbstorganisation
nicht auf die Bundesrepublik übertragen werden können. Wesentliche Voraussetzung
einer solchen Strategie sind die entwickelte Organisation, hohe Verlässlichkeit
und Verbindlichkeit gesellschaftlicher Ver-bände. Dabei sind die organisatorischen
Anforderungen an lokale Bewältigungsstrategien wie sie in den Niederlanden
und in einigen Städten der USA vorherrschen nicht so hoch wie im Falle
einer Einbindung der AIDS-Hilfe in eine nationale Aufklärungs-Kampagne.
Im folgenden soll zunächst auf die Bedingungen der Politikformulierung,
sodann auf spezifische Implementationsprobleme in der Bundesrepublik näher
eingegangen werden.
4. Die Situation in der Bundesrepublik
In der
Bundesrepublik beruhen bundesstaatliche Koordinierungszwänge auf der konkurrierenden
Gesetzgebungskompetenz von Bund und Ländern in der Gesundheitspolitik.
Zwar hat der Bund gesundheits- und seuchenpolitische Kompetenzen, doch
können die Länder als Ausführungsorgane in jedem Fall über den Bundesrat
Gesetzesintiativen zu Fall bringen. Darüber hinaus bleibt ihnen der Vollzugsbereich
zur eigenen Ausgestaltung überlassen. Die direkten Einwirkungsmöglichkeiten
des Bundes sind hier gering - jedoch lassen sich im Zuge zentralstaatlicher
Finanzierung Zugriffe bis auf einzelne lokale Gesundheitsbehörden realisieren,
wie das Großmodell Gesundheitsämter innerhalb der AIDS-Offensive der
Bundesregierung gezeigt hat. Der Bund hat insgesamt im Bereich distributiver
Maßnahmen - solange sie von ihm finanziert werden - gewisse Zugriffsmöglichkeiten
auf die untere Ebene der Gesundheitsverwaltung.Anders verhält es sich
im Bereich regulativer Politik. Verzichtet die Bundesregierung aufgrund
besserer Einsicht oder fehlender Unterstützung in Bundestag oder Bundesrat
auf die Anwendung bestehender oder die Formulierung neuer Bundesgesetze,
so bleibt die unmittelbare Einigung mit den betroffenen Länderressorts
über ein gemeinsames Vorgehen auf der Basis vorhandener oder zu schaffender
Länderregelungen. Ein Beispiel wären hier die abgestimmten Novellierungen
der Hygieneverordnungen der Länder von 1987.Die föderale Kompetenzverteilung
befähigt Länderregierungen und die sie tragenden Parteien, Gesundheitspolitik
für wahlpolitische Zwecke einzusetzen. Der bayrische Maßnahmenkatalog
in der Aids-Politik ist dafür ein Beispiel. Seine über Bayern hinausgehende
Wirkung war von der CSU durchaus beabsichtigt. Der politische Grund, insbesondere
für das "timing" der bayerischen Sondermaßnahmen im Vorfeld der Koalitionsvereinbarungen
von 1987, war die Frontstellung der Bonner Koalitionsparteien CDU, CSU
und FDP in Fragen der Aids- und Rechtspolitik. Die CSU sah darin ein geeignetes
Mittel ihre politischen Ordnungsvorstellungen gegenüber FDP und CDU öffentlichkeitswirksam
und "kostengünstig" zur Geltung zu bringen. Anders als bei anderen Themen
brauchte sie nämlich parteiinterne Opposition sowie politische und materielle
Folgekosten auf dem Feld ihrer im wesentlichen regulativen AIDS-Politik
nicht zu befürchten.Die Konjunktur der AIDS-Politik ist nach dem Regierungsantritt
der zweiten CDU/CSU/FDP-Koaltion schnell wieder abgeflacht, was sich unschwer
an der abnehmenden Medienberichterstattung ablesen läßt. AIDS war 1989,
verglichen mit 1987 nur noch ein politische Marginalie, wenngleich der
Problemdruck in dieser Zeit keinesfalls nachließ. AIDS-Politik war in
der Bundesrepublik, wie in den USA, spät zu einem Konfliktthema der großen,
nationalen Politik geworden und hatte dann eine eher symbolische Funktion
im Parteienwettbewerb erfüllt, ehe es in den administrativen Routinen
der "Politikverflechtung" abgeschliffen und kleinverhandelt wurde.Die Bedeutung
institutioneller Strukturen für die Auswahl materieller Politikstrategien
zeigt sich auch an der Einbindung außerstaatlicher Träger. Der Anreiz
und die Entlastungswirkungen einer Auslagerung von Aufgaben der Aids-Politik
auf gesellschaftliche Selbsthilfeorganisationen sind in einem föderativen
Verwaltungsaufbau größer als in einem geschlossenen, unitarischen System.
Die Handlungsschranken fragmentierter Zuständigkeitsstrukturen haben in
den der USA dazu geführt, daß private Gruppen notgedrungen tun, was Regierungen
nicht leisten konnten (Altmann 1988; 181f.).In der Bundesrepublik, wo im
Gegensatz zu den USA vielfältige zentralstaatliche Initiativen vorhanden
sind, kann das Bundesgesundheitsministerium ähnlich wie das schweizer
Bundesamt für das Gesundheitswesen durch die Unterstützung einer nationalen
AIDS-Hilfeorganisation die föderativen Hürden überspringen und auf Umwegen
ihre Präventions-Strategie durchsetzen. Damit kann sie gewissermaßen
"am Dienstweg vorbei", etwa durch die Förderung der "Deutschen Aids-Hilfe"
und ihres organisatorischen Unterbaues, ihre Politik bis in lokale Initiativen
hineintragen.
4.1 Implementationsprobleme der Aids-Prävention
Der Vergleich
mit der Präventions- und Sozialmedizin in der Schweiz oder den USA verweist
auch auf Defizite des Gesundheitssystems der Bundesrepublik. Hier fehlen
lokale laienmedizinische Hilfegruppen, Ausbildunginstitutionen wie die
Public Health Schools mit ihrer Betonung der allgemeinen Gesundheitsprävention,
oder Organisationserfahrungen, wie sie etwa der Lung Cancer Association
in den USA oder der Zahnerhalt-Kampagne in der Schweiz zugrundliegen. Dies
sind auch die Länder mit weitgehender Privatisierung von Gesundheitsrisiken.
Die Individualisierung von Risiken hat zweifellos den Anreiz, die Akzeptanz
und Wirkungen präventiver Sozialmedizin im Bereich chronischer, auf Verhalten
zurückführbarer Krankheiten gesteigert. Die Aids-Prävention, bei der
es im Vergleich dazu um mehr geht als um die Ersparnis von Versicherungsprämien
und Arztkosten, kann zumindest von diesen Erfahrungen sowohl organisatorisch
als auch im Hinblick auf die Akzeptanz bei den Rezipienten profitieren.Die
üblichen Instrumente politisch-administrativer Steuerung - Gebote, Verbote,
materielle Anreize - sind im Fall der Aids-Politik, von Ausnahmen in Bereichen
der gewerbsmäßige Prostitution (Ausstiegshilfen) und des i.V. Drogenkonsums
(Methadon) abgesehen, kaum anwendbar. Der Hinweis, die Verhinderung einer
todbringenden Ansteckung sei Anreiz genug sich entsprechend zu verhalten,
übersieht, daß die Übertragungssituation stark emotional besetzt, bzw.
affektgeladen ist und zudem öffentlicher Kontrolle entzogen [11].
Bedeutsam wird hier auch der Unterschied zwischen allgemeiner Prävention
und der Politik gegenüber bereits HIV-Infizierten. Für letztere scheidet
der Anreiz, eine eigene Infektion zu verhindern aus. Dabei sind gerade
sie es, die durch verantwortliches Verhalten die Verbreitung des Virus
unterbrechen können. Bleibt die Politik hier untätig, oder beschränkt
sie sich auf symbolische Maßnahmen, so wird ex-post allein die Rechtssprechung
mit dem Problem konfrontiert. Schuldzuweisungen und zivil- wie strafrechtliche
Verfahren sind umso häufiger zu erwarten, je mehr die Infektion aus den
Hauptbetroffenengruppen heraus auf die heterosexuelle und nicht-drogenabhängige
Bevölkerung übergreift.Auch der öffentliche Aufruf zur Verhaltensänderung
bleibt nur begrenzt wirksam, sofern er nicht im sozialen Umfeld der Adressaten
aktiv unterstützt wird. Die Aids-Politik kann, anders als etwa ein Apell
des Bundeskanzlers die Preise nicht zu erhöhen oder mehr Lehrlinge einzustellen,
nicht von vorneherein mit einem funktionierenden Mechanismus sozialer Kontrolle
rechnen. Das für den Erfolg persuasiver Steuerung häufig ausschlaggebene
Imitiations- und Konformitätsverhalten wird allenfalls in intensiven Kommunikationsnetzten,
insbesondere in den Hauptbetroffenengruppen, freigesetzt. Insgesamt gehören
aber die in diesem Sinne bis zu persönlichen Einstellungsänderungen vordringende
Maßnahmen nicht zum Repertoir bürokratischer wohlfahrtsstaatlicher Regulierung.
Im Gegenteil: die Nähe des Staates würde hier nur Aversionen auslösen
und darüber die Lerneffekte autonomer Gruppenprozesse stören.Betrachtet
man die politischen Aktivitäten in der Bundesrepublik von 1982 bis heute,
so fallen institutionelle Neuerungen besonders ins Gewicht. Hierzu zählen
die Einrichtung einer Arbeitsgruppe AIDS im Bundesministrium für Jugend,
Familie und Gesundheit (BMJFG) 1982, die Gründung der Deutschen Aids-Hilfe
1983, eines AIDS-Beirates beim BMJFG, die Einsetzung einer parlamentarischen
Enquete-Kommission AIDS 1987 sowie die Gründung eines nationalen AIDS-Zentrums
und die Unterstützung der Gründung einer nationalen AIDS-Stiftung 1988.
Diese Maßnahmen zielten auf die Organisation des Akteursfeldes, sowohl
innerhalb von Politik und Administration als auch im gesellschaftlichen
Bereich der verschiedenen Interessen und Betroffenen. Sie hatten eine Öffnung
des Politikfeldes für wissenschaftliche Expertise und gesellschaftliche
Gruppen zur Folge. Gleichzeitig bedeutete Beteiligung aber auch verantwortliche
Einbindung in die Politik und die Erfüllung von Aufgaben durch, gesellschaftliche
Organisationen.Die Implementation der Aids-Politik obliegt zu einem guten
Teil außerstaatlichen Akteuren. Neben den Selbsthilfeorganisationen sind
es vor allem Ärzte und ihre Verbände. Eine bedeutende, wenngleich kontovers
beurteilte Rolle spielen daneben die Medien. Auf das Zusammenspiel dieser
Akteure untereinander und mit unteren staatlichen Verwaltungsbehörden
soll im folgenden Abschnitt eingegangen werden.
5. Untere Gesundheitsbehörden und AIDS-Prävention
In Konstanz
verkauft die AIDS-Hilfe e.V. jährlich einen größeren Posten Kondome
der im Miteigentum der Deutschen AIDS-Hilfe befindlichen "Hot Rubber Company"
an die örtlichen Bordelle. Für diese und weitere Hilfen im Kampf gegen
Aids - und dazu gehört auch die Verhinderung einer rein staatlichen Lösung
- bedanken sich deren Geschäftsführer mit einer jährlichen Weihnachtsspende
von DM 1500.-. Ein Gesundheitsamt, das dem örtlichen Bordell Kondome aus
eigener, staatlicher Produktion verkauft, ließe sich dagegen mit den Grundsätzen
öffentlicher Verwaltung in der Bundesrepublik nicht vereinbaren. Ein beamteter
Aids-Referent kann auch nicht im Einzelfall die freiwillige Laienhilfe
für AIDS-Kranke, z.B. in Strafanstalten, koordinieren oder in der Drogen-
und Stricherszene Aufklärungsarbeit leisten - unter anderem weil er dadurch
mit seinem Diensteid in Konflikt kommen könnte. Zudem bestehen in den
Hauptbetroffenengruppen erhebliche Aversionen gegen staatliche Direktintervention.Trotzdem
bleibt die Tätigkeit der unteren Gesundheitsbehörden nicht wirkungslos.
Erste Aktivitäten waren auch hier oft von behördeninterner Eigeninitiative
geprägt und bestanden im wesentlichen - wie auf den höheren Ebenen -
in der Organisation von Außenbeziehungen mit dem Ziel einer Strukturierung
des für relevant erachteten gesellschaftlichen Umfeldes. So haben Leiter
von Gesundheitsämtern zunächst aus Eigeninitative später auf Anordnung
übergeordneter Dienststellen lokale AIDS-Konferenzen einberufen, in die
Ärzteverbände und Krankenhäusern, Laboratorien, Schulämter, Drogenvereine,
Justizvollzugsanstalten, Homosexuellenintiativen, Bordellbesitzer, Sozialämter,
AIDS-Hilfen, Krankenkassen und weitere Institutionen ihre Vertreter entsenden
können.In einer zweiten Phase folgten interne Verwaltungsreaktionen, insbesondere
die Regelung von Zuständigkeiten und prozedurale Festlegungen, beispielsweise
zur Organisation von HIV-Antikörper-Tests. Initiiert durch Modellprogramme
der Bundesregierung und nach Anordnungen der zuständigen Länderministerien
verfügen heute auch jene Gesundheitsämter über Aids-Referenten, in deren
Einzugsbereich die Hauptbetroffenengruppen kaum in Erscheinung treten und
bis heute kein AIDS-Fall aufgetreten ist, bei denen also die Gefährdungslage
eine eigene Initative nicht erwarten ließ.Die Ausstattung mit AIDS-Referenten
hat zur Vereinheitlichung der AIDS-Maßnahmen der Gesundheitsämter beigetragen.
Umfragen bei Gesundheitsämtern im Bodenseeraum [12]
im Jahre 1987 ließen hier noch eine Vielfalt von Reaktionen und Einstellungen
erkennen, die oft auf spezielle Erfahrungen und Vorurteile von Behördenleitern
zurückgeführt werden konnten. Da gab es Behörden, in denen AIDS sehr
früh in die Reihe der Geschlechtskrankheiten eingereiht wurden, und die
schon eineinhalb Jahre vor einer anonymisierten Berichterstattungspflicht
HIV-Positive an das Bundesgesundheitsamt meldeten. Andere konzentrierten
sich auf die Beeinflussung von Prostituierten, sich auf HIV testen zu lassen,
weitere betrachteten den Drogenmißbrauch als Hauptproblem und befürworteten
- entgegen regierungsamtlicher Weisung - sogar die Bereitstellung sterilisierter
Nadeln. Die nichtinstruierte Verwaltung reagierte bis dahin uneinheitlicher
als die sich bildenden Selbsthilfeinitiativen!
6. Stellenwert außerstaatlicher Akteure
Staatliche
Politik und Administration sind aus den genannten Gründen nicht in der
Lage eine präventive Aids-Politik ohne die Mitarbeit autonomer gesellschaftlicher
Akteure selbst zu implementieren. Innerhalb der gesellschaftlichen Aktuersgruppen
- Ärzte, AIDS-Hilfen und Medien - gibt es freilich auch einige Konflikte
und Unzulänglichkeiten, die nach staatlicher Regulierung verlangen.Ein
latenter Konflikt zwischen Medizinern und den Intentionen der Aids-Hilfen
ist auf der Ebene epidemiologischer Forschung angesiedelt. Von einigen
Vertretern der Ärzteschaft wird der Standpunkt vertreten, daß verläßliche
Daten über die Ausbreitung der HIV-Infektion nur über ein massenhaftes
"screening" der ganzen Bevölkerung oder großer Bevölkerungsgruppen zu
erlangen sind [13].Die
Erfahrungen der von uns befragten Mitarbeiter von AIDS-Hilfen mit Ärzten
erinnern an Aussagen, wie sie von Mitarbeitern früher TBC-Fürsorgestellen
berichtet werden [14]:
Viele seien nicht bereit mit AIDS-Hilfen zusammenzuarbeiten. Etwa zwei
Drittel seien abgeneigt, AIDS-Kranke zu behandeln. Einige Ärzte weisen
AIDS-Kranken gesonderte Wartezimmer zu. Gelegentlich wird auch über mangelnde
oder veraltete Sachkenntnis der Mediziner geklagt, beispielsweise bei der
Anwendung neuerer Therapieformen und Medikamente. Andererseits kennen die
Mitarbeiter von AIDS-Hilfen meist einige wenige Ärzte, denen sie vertrauen
und denen sie Betroffene zuführen.Die allgemeine Aufklärungsfunktion
von Ärzten wird in den Hauptbetroffenengruppen gering eingeschätzt. Dies
mag an den speziellen Erfahrungen und Vorurteilen in diesen Gruppen liegen.
Da sich in Umfragen in der Gesamtbevölkerung weitaus die meisten zum Arzt
als Hauptinformationsquelle in medizinischen Fragen bekennen, darf angenommen
werden, daß Ärzte eine wirksamere Rolle in der allgemeinen AIDS-Aufklärung
übernehmen könnten.AIDS-Hilfegruppen, die einen Großteil der gruppenspezifischen
Aufklärung und Betreuung leisten, sind in der Bundesrepublik oft das Ergebnis
sozialen Engagements und staatlicher Politik. Selbst die ganz frühen
Intitiativen hatten mit der Wahl der Organisationsform des eingetragenen
rechtsfähigen Vereines bereits das Ziel kommunaler oder staatlicher Förderung
im Auge (Wübker 1988). Die Deutsche AIDS-Hilfe e.V. wurde bereits 1985
über die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung mit einer halben
Million DM unterstützt, ein Jahr später waren es schon fast zwei Millionen
und 1987 und 88 über vier Millionen. Zusätzliche Unterstützung erfuhren
die regionalen und lokalen Selbsthilfeorganisationen aus den Länderetats
sowie von Landkreisen und Städten. Nach einer Umfrage von 1986 erhielten
bereits damals 92 Prozent dieser Organisationen kommunale Zuschüsse.Die
öffentliche Finanzierung erfordert eine vorgebene Form der Mittelbewirtschaftung,
z.B. die Aufstellung und Verabschiedung von Haushaltsplänen. Etwa die
Hälfte der Arbeitszeit hauptamtlicher GeschäftsführerInnen und zwei
Drittel der Tätigkeit einer zusätzlichen Halbstagskraft werden nach unseren
Befragungen von reinen Verwaltungstätigkeiten aufgezehrt. Der Rest verbleibt
für die Koordination ehrenamtlicher Mitarbeiter und für Beratungsaufgaben.
Probleme mit der eigenen Bürokratie gefährden die Kernfunktion von AIDS-Hilfen,
die gerade darin liegt nicht bürokratisch reagieren zu müssen.Trotz verfälschender
Berichte aus der medizinischen Aidsforschung und einer gelegentlich stigmatisierenden
Sensationspresse, kann der Beitrag der Medien zur allgemeinen Aids-Aufklärung
nicht geleugnet werden. Lokalzeitungen, Nachrichtenmagazine und Fernsehsendungen
übertreffen in den USA alle anderen Informationsquellen zu AIDS bei weitem.
Arztgespräche und Aids-Broschüren spielen dagegen - selbst in den Hauptbetroffenengruppen
- eine untergeordnete Rolle (Bologne/Johnson 1986, vgl. auch Check 1987,
Albert 1986)In der Bundesrepublik nennen 47 Prozent der Befragten das Fernsehen
als wichtigste Informationsquelle ihrer Bekannten in Gesundheitsfragen
(Runkel 1987). Nach den eigenen Hauptinformationsquellen befragt,
wird das Fernsehen aber nur noch mit 10% genannt, was darauf hindeutet,
daß die Verhaltensorientierung an der Medienberichterstattung hierzulande
als sozial unerwünscht gilt. Dies läßt an der Wirksamkeit masenmedial
vermittelter AIDS-Aufklärung - zumindest für die Bundesrepublik - Zweifel
aufkommen.Die Diskrepanz zwischen dem Informationsverhalten und der Bewertung
von Informationsquellen trägt bei der Mehrheit der Bevölkerung zur Trennung
von erworbenem Wissen und Handlungsdispositiven bei. So hat die Bereitschaft
zur Benutzung von Kondomen in der Gesamtbevölkerung laut Umfragen kaum
zugenommen. Die ablehnende Einstellung führt auch dazu, daß selbst diejenigen,
die eine Infektion befürchteten, nach negativen HIV-Tests die Benutzung
von Kondomen oftmals wieder reduzierten (Runkel 1987; 137). Hier macht
sich eine negative Warnlogik bemerkbar, derzufolge Warninstrumente ihre
Wirksamkeit verlieren, wenn sie mehrmals angewandt werden, ohne daß die
erwarteten Folgen sichtbar würden (Clausen/Dombrowski 1984).Die aus der
Katastrophensoziologie bekannte negative Warnlogik besteht besonders dann,
wenn gelegentliches riskantes Verhalten nicht zur HIV-Infektion führt.
Dies ist im heterosexuellen Bereiche angesichts eines äußerst geringen
Durchseuchungsgrades und HIV-Übertragungsraten von vermutlich weit unter
20 Prozent nahezu der Normalfall [15].
Der Wirkungsgrad einer warnenden, auf die Angst vor Konsequenzen setzende
Berichterstattung der Medien nimmt nicht nur dann ab, wenn die Ausbreitung
des Virus tatsächlich gestoppt werden kann. Auch bei kontiniuierlichem
Anstieg ist mit Abstumpfungseffekten zu rechnen, insbesondere dann, wenn
durch sensationelle Aufmachung in den Medien eine Distanzierung und Verlagerung
des Problems ins Exotische stattfindet.
7. Aufklärung als Kontrolle?
Aids-Politik
zielt auf individuelle Verhaltensänderungen in Lebensbereichen, die staatlichem
Einfluss und sozialer Kontrolle nur schwer zugänglich sind. Eine problemädäquate
Lösung hätte zunächst dort anzusetzen, wo die Infektion vermehrt auftritt
und die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung am höchsten ist - in den Gruppen
mit einem für die HIV-Übertragung charakteristischen Risikoverhalten.
Die in und mit den Hauptbetroffenengruppen organisierten Stop-Aids-Kampagnen
in San Francisco und den Niederlanden waren insgesamt erfolgreicher als
der umgekehrte Weg, Broschüren an alle Haushaltungen zu verteilen und
sich dann erst den besonderen Gefahren bestimmter Sexualpraktiken und des
i.v. Drogenkonsums zuzuzuwenden. Die letzere Strategie wurde trotzdem in
den meisten Ländern bevorzugt, um den Boden zu bereiten für den von der
Regierung als problematisch erachteten Dialog mit den Hauptbetroffenen [16].Selbst
in Schweden besteht nach Henrikkson (1988;13) "der einzige Weg von einem
Durchschnittsschweden die Unterstützung für AIDS-Programme zu bekommen
darin die Epidemie zu 'ent-homosexualisieren' und damit zu einer "anständigen"
Krankheit zu machen". Es gibt offenbar einen Unterschied zwischen der gesellschaftlichen
Tolerierung bzw. Nichtbeachtung und einem positiven helfenden Umgang mit
homosexuellem Risikoverhalten, der auf den Fortbestand latenter Vorurteile
auch in liberalen Gesellschaften hindeutet. Die Gefahr der Stigmatisierung
ist indes besonders groß, wo Homosexualität noch als strafbares Verbrechen
gilt, wie in fast der Hälfte der amerikanischen Staaten, in Israel, Neuseeland
und einigen australischen Staaten 17].Der
internationale Vergleich zeigt, daß die Voraussetzungen einer aktiven
und doch liberalen Aids-Politik nach Ländern, Regionen und Betroffenengruppen
recht unterschiedlich entwickelt sind und nur schwer verändert werden
können. Nur in den wenigsten Ländern sind unspezifische Organisationshilfen
an die Hauptbetroffenengruppen vorstellbar, die das Akteursfeld strukturieren
und gesellschaftliche Selbsthilfepotentiale stärken. Allein Holland unterstützt
unabhängig von Maßnahmen der Aids-Prävention die Selbstorganisation
Homosexueller und i.v. Drogenabhängiger. Bestrebungen, homosexuellen Lebensgemeinschaften
den Status der Zivilehe zu verleihen, um so die Dauerhaftigkeit und Rechtsförmigkeit
solcher Beziehungen zu erreichen, sind vorerst auf Schweden begrenzt. Es
ist das Dilemma der Aids-Politik, daß sie es dort am schwersten hat, wo
die gesellschaftlichen Vorurteile gegen die Hauptbetroffenen groß, und
die Möglichkeiten ihrer Selbstorganisation gering sind.Kann staatliche
Politik überhaupt nicht auf selbstorganisatorische Bemühungen der Betroffenen
oder die Kooperation anderer gesellschaftlicher Akteure, z.B. Ärzte oder
Medien, zurückgreifen, bleibt die administrative Problembewältigung innerhalb
eines gegebenen oder speziell erweiterten Behördenapparates. Gegen eine
rein staatliche Bewältigungsstrategie sprechen indes ihre kaum kalkulierbaren
Nebenfolgen. Es ist nur ein kleiner Schritt von staatlicher Erziehung und
Aufklärung zur Verhaltenssteuerung und Überwachung. Es gibt in der Geschichte
genügend Beispiele der Zielverschiebung und Verselbständigung bürokratischer
Apparate, in deren Verlauf ursprüngliche Aufklärungszwecke in ihr Gegenteil
verkehrt wurden. Gesellschaftliche Interessenorganisation ist hier eine
Möglichkeit der organisierten Macht des Staates Schranken zu setzen. Im
übrigen blieb Aids-Politik dort am wenigsten erfolgreich, wo vorwiegend
administrativ reagiert wurde und die Betroffenen kaum organisiert sind,
wie etwa in Frankreich.Unzulänglichkeiten staatlicher Politik können
gesellschaftliche Eigeninitative fördern, insbesondere dann, wenn die
Fiktion, man habe alles im Griff, aufgegeben wird, und sich der Verwaltungsstaat
nach außen öffnet, indem er den Betroffenen Beteiligungs- und Einwirkungsmöglichkeiten
einräumt. Hinzu kommt freilich im Falle der Aids-Politik ein politisch-kultureller
Faktor - die schwierige Balance zwischen verbreiteten Moralauffassungen
und dem Respekt vor den Bürgerrechten des Einzelnen. Vor allem in den
USA und in Großbritannien hat dieser Konflikt einen Meinungsaustausch
zwischen Betroffenen und Behörden zunächst erschwert und die frühzeitige
Stellungnahme der konservativen Regierungen dieser Länder verhindert.
Gerade sie hatten Mühe ihr gleichzeitiges Eintreten für traditionelle
Moralvorstellungen und private Eigenverantwortung auf dem Feld der Aids-Politik
miteinander in Einklang zu bringen. Öffentlichen Äußerungen der Regierungsspitzen
finden sich deshalb sehr spät und eher spärlich.Die westlichen Industriestaaten
haben auf das neue tödliche HIV-Infektionsrisiko insgesamt moderat reagiert.
Die Unterschiede der Aids-Politik sind dann gering, wenn man die historische
Seuchenpolitik als Vergleichsmaßstab heranzieht. Es zeigte sich, daß
demokratisch verfasste Rechtsordnungen, staatliche Reaktionen moderierten
- einmal durch die Existenz staatsgerichteter Abwehrrechte, zum anderen
durch die Mechanismen der politischen Willensbildung und Entscheidung.
Die "Geschlossenheit und Widerspruchsfreiheit" staatlicher Maßnahmen",
die Gauweiler (1988) unter Berufung auf die "Einheitlichkeit der Verwaltung"
fordert, scheitern sowohl an den Mechanismen des Parteienwettbewerbs, als
auch an administrativer Fragmentierung. Unter Unsicherheitsbedingungen,
insbesondere wenn das Ausmaß eines Problems noch umstritten ist, kann
der von Gauweiler beklagte Zustand jedoch segensreich wirken.Selbst für
katastrophische Bedrohungslagen erscheint es unrealistisch, Politik und
Verwaltung zeitlich bruchlose, problemadäquate Anpassungs- und Optimierungsleistungen
abzuverlangen. Hierzu wären ein einheitlicher politischer Wille, eine
eindeutige, Situationsdefinition und die Einheitlichkeit der Verwaltung
notwendige Voraussetzungen. Sie entsprechen freilich immer weniger den
Realitäten eines demokratischen - gegenüber der Gesellschaft offenen
und administrativ ausdifferenzierten - Staates.Um problemadäquat handeln
zu können, bedarf es auch einigermaßen gesicherten Wissens und der Expertise,
die oft dort wo komplexe und dringliche Probleme vorliegen am wenigsten
vorhanden sind. Wer trotzdem in dezisionistischer Absicht ein geschlossenes
Handlungskonzept in der AIDS-Politik und dessen bürokratisch zentralistische
Umsetzung fordert, muß mit negativen Nebenfolgen für Politik und Gesellschaft
rechnen. Politische Diskurse würden erschwert, die wissenschaftliche Forschung
eingeengt, die gesellschaftliche Integration gefährdet und Selbsthilfeintiativen
im Keim erstickt.Wettbewerbsdemokratien erfordern im Umgang mit neu auftretenen
Problemen und Bedrohungslagen Vorkehrungen, die weder technokratische Machbarkeit
vortäuschen, noch die Unzulänglichkeit tradierter Problemlösverfahren
affirmieren. Mit Blick auf die Selbstorganisation der Betroffenen im Falle
Aids zeigt sich: Wo Politik und Verwaltung - oft erzwungenermaßen - einen
unzulänglichen Umgang mit neuen Problemen praktizieren, tritt die gesellschaftliche
Aneignung von Laienkompetenz und kollektiver Gefahrenabwehr ein. So unzulänglich
sie für sich alleine sein mag, so unentbehrlich ist sie für die Konzipierung
und Implementation staatlicher Maßnahmen geworden. Es kommt für die staatliche
Politik darauf an, die Koevolution von Risikoverwaltung und gesellschaftlicher
Selbsthilfe im Auge zu behalten, zu nutzen und zielorientiert zu beeinflussen.
Damit bleibt - gerade bei unsicherer Entscheidungsgrundlage - staatliches
Handeln strategiefähiger und flexibler als durch kraftmeierische Interventionsskonzepte.
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ANMERKUNGEN
[1]
Gostin (1986; 87)
[3]
So einer der Exponenten der Moral Majority, Rinald Godwin, zit. n. Altmann
(1986);25.
[4]
vgl. AIFO 3; 415ff, Panem 1988; 47f.
[5]6
Damit sollen bei noch geringer Verbreitung des Virus in den genannten Staaten
möglichst lückenlose Informationen über Ansteckungsverläufe gewonnen
werden, von denen man sich eine effektive Kontrolle der Weiterverbreitung
erhofft (vgl. Intergovernmental Health Policy Project 1987)
[7]
Nature 326 (2. April 1987);435
[8]
Die Daten entstammen dem "Digest of Health Legislation" der WHO und der
Serie "Tabular Information on Legal Instruments Dealing with AIDS and HIV
Infection", in AIFO (versch. Jg.)
[9]
Scharpf/Reissert/Schnabel (1976) nennen die wesentlichen Bestimmungsfaktoren
und Konsequenzen verflochtener Politikstrukturen. Generell kann man feststellen,
daß die Fragementierung von Gesetzgebungskompetenz, Finanzierung und Verwaltungszuständigkeiten
bürokratische Aushandlungsmechanismen erzeugt und Vollzugsprobleme in
den Vordergrund rückt. Zur politischen Seite ist zu sagen: Je homogener
die Präferenzen innerhalb der beteiligten Institutionen, bzw. Teilstaaten
sind und je weiter sie zwischen ihnen variieren, umso schwerfälliger gestaltet
sich der Prozess der Politikformulierung. Diesen Zusammenhang beinflußt
als intervenierende Variable die issuespezifisch gegebene Operationalisierbarkeit
von Zielen (etwa Klassensollstärken in der Bildungspolitik oder Zahl der
Krankenhausbetten in der Gesundheitspolitik) und ggf. Mitteln der Politik.
Nur auf ihrer Grundlage können bürokratische Aushandlungsprozesse effektiv
gesteuert werden. Um aber Ziele und Mittel operationalisieren zu können,
bedarf es ausreichender Expertise zum Problemstatus, Ursache-Wirkungszusammenhängen
und erreichbarer Problemlösungen (vgl. Mäding 1979). Diese sind nun im
Fall Aids weit weniger gegeben als etwa im Bereich der Bildungspolitik
oder Krankenhausfinanzierung, für die entsprechende empirische Studien
vorliegen.
[10]
So finanzierte die schweizer Regierung beispielsweise dem Unternehmerverband
eine Personalstelle zur Vorbereitung von zwischenstaatlichen Handelsvertragsverhandlungen,
oder zog es vor ein Abkommen zwischen westschweizerischen Mieterbund und
dem Grund- und Hauseigentümerverband als Äquivalent für eine Mieterschutzgesetzgebung
anzuerkennen, anstatt eigene Leistungen zu erbringen. Der schweizer Bundesrat
begrüßt grundsätzlich die Lösung sozialer und wirtschaftlicher Probleme
durch Privatabmachungen statt durch staatliche Intervention, wobei auf
der Grundlage eines 1972 verkündeten Verfassungsartikels die staatliche
Föderung "privater Politik" etwa durch das Instrument der Allgemeinverbindlichkeitserklärung
zusätzlich erleichtert wird.
[11]
"Sexualität ist die stärkste irrationale Macht über den Menschen" (Max
Weber), und deshalb durch rationale Anreizstrukturen, auch die Androhung
tödlicher Folgen, nicht steuerbar. Daß man eine Ansteckung "billligend
in Kauf nehmen" kann - sozusagen als Liebesbeweis - zeigt der Fall einer
Sechzehnjährigen, die ihren HIV-positiven Freund zum ungeschützten Geschlechtsverkehr
geradezu überredete (Amtsgericht Kempten, vgl. den Beitrag von Hubert
Rotleuthner in diesem Band).
[12]
Die Befragungen wurden zum Teil von Studenten im Rahmen eines von Roland
Czada zusammen mit Alexander Drexler 1987/88 veranstalteten Kurses zur
"Seuchenpolitik und Risikoverwaltung" vorgenommen.
[13]
Vgl. die verschiedenen Beiträge von Gert G. Frösner in der Zeitschrift
Aids-Forschung.
[14]
vgl. Kayser-Petersen (1926; 37).
[15]
"Nur 1,8 Prozent aller Frauen mit AIDS in den USA hatten sich nach Angaben
des Centers for Disease Control bei einem männlichen Partner angesteckt
... Der Übertragungsweg von Frauen auf Männer ist zwar ebenfalls nachgewiesen,
jedoch nur 0,5 Prozent der AIDS-Fälle bei Männern in den USA resultieren
aus heterosexuellen Kontakten. So wurden die Ehemänner von vier HIV-positiven
Frauen nach drei Jahren mit regelmäßigem sexuellem Kontakt nicht angesteckt"
(Süddeutsche Zeitung v. 29. 12. 1988; 35). Eine Ansteckung basiert offenbar
auf der Übertragung infizierter Körperzellen und nicht des isolierten
HI-Virus (ebenda)
[16]
The Guardian v. 13.12.1986, vgl. Street 1988b
[17]
Gerade aus diesen Ländern wurden Ausbrüche von "AIDS-Panik" berichtet,
die ins Abstruse oder gewaltsame Auseinandersetzungen gesteigert widerum
die Politik auf den Plan rufen und eine rationale Problemlösung verhindern
(vgl. Altmann 1988)