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6. Das Dilemma des marktwirtschaftlichen Umbaues

Ein Problem des marktwirtschaftlichen Umbaues bestand darin, daß die Privatisierung meist komplizierte Einzelfallösungen erfordert, die regionalökonomische und strukturpolitische Zusammenhänge kaum berücksichigen konnten. So drohte die Schließung eines unrentablen Treuhandunternehmens den Zusammenbruch leistungsfähiger Zulieferbetriebe auszulösen oder die Privatisierungschanchen anderer Betriebe schmälern. Im ökonomischen Transformationsprozess drohte auf diese Weise die Gefahr regionaler Niedergangspiralen - Kettenreaktionen, die mit dem Zusammenbruch von ganzen Produktionsstandorten enden konnten.

Die Gefahr solcher Niedergangsspiralen wurde - spätestens seit dem Frühjahr 1992 - in der Treuhandanstalt und bei den Landesregierungen gesehen. Die Brisanz des Problems ist aber zuerst an den Standorten selbst entdeckt worden. Das Problem wurde von Betriebsräten, Gewerkschaften und Landesregierungen in die Treuhandanstalt hineingetragen. Die Gewerkschaftsvertreter im Verwaltungsrat der Treuhandanstalt haben im Einklang mit den Ländern darauf hingewiesen, daß sich die Stillegung bestimmter Unternehmen allein aus regional- und beschäftigungspolitischen Gründen verbietet. Aber selbst schwerwiegendste politische Legitimationsprobleme - etwa im Fall der Werften, der Stahl- und Chemiestandorte oder der Kaliprivatisierung - führten in der Regel nicht zu strukturpolitischen Konzepten. Die Folge waren vielmehr beschleunigte Privatisierungen um fast jeden Preis sowie deren soziale Flankierung durch Beschäftigungsgesellschaften, die häufig in Zusammenarbeit zwischen THA, Gewerkschaften und Landesregierungen gegründet wurden.

Die in den um die Treuhandanstalt angesiedelten Beziehungsnetzwerken getroffenen Entscheidungen hatten außerordentliche, gleichwohl zumeist ungeplante Auswirkungen auf die entstehende Wirtschaftsstruktur der neuen Bundesländer. Zusätzliche strukturpolitische Effekte erzeugt im übrigen das gesamte Föderinstrumentarium zum Aufbau Ost - insgesamt gabe es hunderte von Fördertöpfen, aus denen jährlich 40 Milliarden DM in den Osten flossen nur um Investitionen anzureizen (Investitionszuschüsse, ohne Ausgaben der Treuhandanstalt, Transfers an die Länderhaushalte sowie öffentliche Investitionen des Bundes).

Der Verzicht auf ein durchdachtes Konzept von Fördermaßnahmen hatte am Anfang ideologische bzw. ordnungspolitische Gründe. Die Bundesregierung ging davon aus, die Treuhandanstalt könne durch eine schnelle Privatisierung die Marktkräfte enfesseln und dadurch ein zweites deutsches Wirtschaftswunder bewerkstelligen. Spätere kamen weitere Faktoren hinzu: 1. Der unvorbereitet einsetzende Handlungsdruck zwang zur Problemvereinfachung und zum "Hindurchwursteln, weil es keine adäquaten Konzepte gab, die der Komplexität der Problemlage entsprochen hätten. 2. Die Mechanismen des Parteienwettbewerbs haben im Wahljahr 1990 das "Schönreden" einer bekanntermaßen schlechten Lage verursacht. 3. Eine kurze Vereinigungskonjunktur hatte 1990 verfrühte und falsche Hoffnungen auf einen längerdauerenden, selbsttragenden Aufschwung geweckt.

Im Verlauf der Transformationspolitik hatten sich zudem Interessenkonstellationen herausgebildet, die eingriffsintensive Politikstrategien ausschlossen. Solche Konzepte entfalten in wirtschaftlichen Rezessionszeiten Diskriminierungseffekte, die gegen den westdeutsche Unternehmerinteressen und die Europäische Gemeinschaft nicht durchsetzbar waren. Die Struktur- und Regionalpolitik der Bundesrepublik, ohne die eine Entwicklung des Zohnenrandgebietes und der übrigen "Notstandsgebiete" in den deutschen Bundesländern nicht möglich gewesen wäre, fiel in lange Wachstumsphasen und hatte daher kaum Verdrängungswirkungen verursachte. Aufgrund der ökonomischen Vereinigungskrise kann sich dagegen jede Präferenz für den Aufbau Ost zu Lasten westdeutscher Standorte auswirken. An solchen Wechselwirkungen hätte auch eine Strukturpolitik wenig ändern können; sie hätte sonst im Westen diejenigen entschädigen müssen, die durch die Strukturförderung-Ost in Schwierigkeiten geraten wären.

Die Problemlage und interessenpolitischen Konstellation erlaubte im Prinzip nur zwei Auswege. Der eine vertraut ganz auf den Schumpeterschen Mechanismus der schöpferischen Zerstörung. Ihm zufolge müßte die Planwirtschaft im Idealfall schlagartig privatisiert werden - etwa dadurch, daß man die Unternehmen kurzerhand verschenkt, wie es der Direktor des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Horst Siebert, vorschlug. Durch eine augenblickliche und vollständige Privatisierung würden sich Marktpreise für Unternehmen und ihre Produkte rasch herausbilden. Ob die dann autonomen Marktteilnehmer angesichts der katastrophalen Lage, die ihnen dieses Vorgehen offenbarte, fähig wären, sich selbst zu vernetzen und entsprechende Investitionen tätigen würden, bleibt allerdings zweifelhaft. Es war in der Treuhandanstalt sehr bald klar geworden, daß Wettbwerb allein fast die gesamte ökonomische Substanz in Ostdeutschland vernichten und nur wenig Neues schaffen würde. Solange die produktiveren Unternehmen im Westen unter Überkapazitäten litten und Markterweiterung in vielen Branchen kaum Investitionen voraussetzte, bestand kein unternehmerischer Anreiz zum Erwerb von Treuhand-Unternehmen. Der Markt des neuen Bundesländer konnte ohne Zusatzinvestitionen aus dem Westen versorgt werden und dasselbe galt für die traditionellen Ostmärkte nachdem ihr Volumen auf einen Bruchteil der prognostizierten kaufkräftigen Nachfrage geschrumpft ist. Nach der reinen marktwirtschaftlicher Logik hatte der Standort kaum eine Chance.

Damit blieb nur der zweite mögliche Ausweg einer pragmatischen Politik, die insofern marktkonfrom war, als sie trotz öffentlicher Finanzierung ein Höchstmaß an privaten Entscheidungen zuließ. Viele Privatisierungsverträge der Treuhandanstalt enthalten die Zusage von mehrjährigen Verlustübernahmen. Im Gegenzug mußten die Investoren Investitions- und Arbeitsplatzzusagen machen. Ingesamt sind der Treuhandanstalt 180 Milliarden Mark privater Investitionen und die Erhaltung von 1,4 Mio. Arbeitsplätzen zugesagt. Für den einzelnen Investor entstanden dadurch zwar neue Risiken, zumal dann, wenn für den Fall der Nichteinhaltung Vertragsstrafen vorgesehen waren. Im Aggregat aller Privatisierungen reduzierte indessen die Summe der Investitionszusagen die Risiken des Scheiterns, weil dadurch jedem einzelnen Investor das gleichzeitige oder künftige Engagement der ihm wichtigen regionalen Anbieter oder Nachfrager versichert wurde. Die Treuhandanstalt konnte die Geschwindikeit der Privatisierung durch kräftige Investitionsanreize steigern. Insofern hat sie einen zentralen Parameter durchaus gesteuert.

Das seit Frühjahr 1991 geltende Prinzip "Privatisierung ist die beste Sanierung" konnte nicht immer durchgehalten werden. Wo Privatisierungen erst nach einer unternehmerischen Sanierung von Unternehmen möglich schienen, wurde der Unternehmensbestand in selbständige Management-Gesellschaften ausgelagert. In ihnen konnten die von der Treuhandanstalt entsandten, hochdotierten Vorstände wie freie Unternehmer handeln.

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