Der "kooperative Staat"
im Prozeß der deutschen Vereinigung. [*]

Roland Czada


Unser Weg in die Zukunft ist unsicherer, als er es
noch vor fünf oder zehn Jahren war.
Die Zukunft, in die wir hineingehen, ist schwierig.
Sie ist nicht ohne weiteres mehr kalkulierbar,
so wie das einige Jahrzehnte in der Vergangenheit war.
Roman Herzog [1]


Die zweite deutsche Republik ist durch eine bemerkenswerte Erwartungsstabilität und Berechenbarkeit im politischen Akteursystem gekennzeichnet, die nicht zuletzt in dem von Ernst-Hasso Ritter geprägten Begriff des "Kooperativen Staates" zum Ausdruck kommen. [2] Es handelt sich um ein politikverflochtenes und von korporatistischer Verbändeeinbindung geprägtes Regierungssystem, dessen komplizierte innere Machtverteilung wechselseitige Abhängigkeit und Verpflichtung hervorbringt.Die deutsche Vereinigung ist für dieses System eine besondere Herausforderung. Sie verlangt von den politischen Akteuren ein hohes Maß der situativen Anpassung. Dies betrifft sowohl die Fülle neuer Probleme und Aufgaben als auch die Anpassung an ein verändertes institutionelles Umfeld, das durch die Errichtung von fünf neuen Bundesländern und der Treuhandanstalt geprägt ist. Das Ausmaß der Erwartungsunsicherheit und schwindenden Kalkulierbarkeit des politischen Handelns unterscheidet die Nachvereinigungsphase von der alten Bundesrepublik. Der Unterschied erscheint umso folgenreicher, je geringer man die Fähigkeit der Politik, mit Unsicherheit umzugehen, veranschlagt. Dies ist nicht zuletzt eine Frage der Elastizitätsreserven bzw. des "organizational slack" im Regierungssystem. [3] Je größer diese Reserven sind, desto flexibler kann die Politik neue Probleme lösen, ohne die Grundlinien des Institutionengefüges korrigieren zu müssen. Erst wenn die Problem so neuartig sind und Konflikte so massiv werden, daß sie in den bestehenden Strukturen des "kooperativen Staates" nicht bewältigt werden können, stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit und den Schranken einer institutionellen Reformpolitik. Sie richtet sich auf das Thema der Politikentwicklung in den Akteursnetzwerken der Vereinigungspolitik. Insofern geht es weniger um die Anpassung der politischen Wertordnung an die Bedürfnisse des vereinigten Deutschland bzw. um die normativ zu erörternde Frage einer Verfassungsreform, sondern darum, wie neue, drängende Problemlagen von den Aklteuren im politischen System verarbeitet werden, und inwiefern sich dabei dieses System in seiner Betriebsweise und Struktur selbst verändert. [4]

1. Überraschungen im Vereinigungsprozeß

Das auffallendste Merkmal des deutschen Vereinigungsprozesses bestand darin, daß über Jahre hinweg vieles anders kam als man zuvor gedacht hatte. Niemand konnte im November 1989 als die Berliner Mauer gefallen war, voraussehen, woran sich nur wenige Monate später, im Frühjahr und Sommer 1990, übersteigerte Hoffnungen knüpfen sollten. Die deutsche Einheit kam auch für Experten völlig unvermutet. Und mit ihrer Verwirklichung am 3. Oktober 1990 war die Zeit der Überraschungen noch keineswegs zu Ende. Wo Voraussagen gemacht wurden - eine neue deutsche Verfassung, blühende Landschaften im Osten, ein friedliches Zeitalter nach dem Ende des kalten Krieges - wurden sie meist enttäuscht. Politiker, die 1990 in der Privatisierung der DDR-Wirtschaft einen Beitrag zur Tilgung der Staatsschulden gesehen hatten, waren überrascht als sich in Wirklichkeit eine Fiskalkrise ankündigte; oder als die Massenarbeitslosigkeit bedrohlich anschwoll, wo viele ein zweites Wirtschaftswunder erhofft hatten.In der Vereinigungspolitik folgte auf anfängliche Zuversicht oft Skepsis, hier und da auch tiefgründiger Pessimismus, der zuletzt weniger die Zukunft und Leistungsfähigkeit der Wirtschaft, zunehmend aber die Anpassungsflexibilität des politischen Systems betrifft. Von politischer Lähmung sprach Jürgen Habermas, und er meinte die Unfähigkeit der Politik, realistisch auf die Fülle der Probleme einzugehen, die sich seit dem Ende des kalten Krieges und infolge der deutschen Vereinigung ergeben haben. [5] Ähnlich äußerte sich Arnulf Baring. Er meint: "Lethargisch wird das Land von einer visionslosen Politikerklasse verwaltet, die müde nach den Regeln der letzten vierzig Jahre weiterwurstelt". [6] Und er fragt an anderer Stelle, wie "diese chronische Blindheit" zu erklären sei, "wo doch jedes Kind begriffen hat, was wirklich geschah". [7] Liegt es am politischen System, das "nicht flexibel genug ist, um mit dem Gewicht und der Masse der Probleme, die sich ihm stellen, fertig zu werden"?Diese mit Kritik durchsetzte Sorge teilt er mit vielen weiteren Analysen zur Vereinigungspolitik. Sie skizzieren die Vereinigungspolitik als eine "Leporello-Arie der Fehler und Versäumnisse". [8] Diese Sicht ist mit der in der Politikwissenschaft vorherrschenden durchaus im Einklang. Auch hier findet sich - zum Beispiel in einigen Forschungsbeiträgen das Bild einer im ganzen verhängnisvollen Vereinigungspolitik, die Veränderungen in ihrem Problemumfeld zu ignorieren scheint, wenn sie mit althergebrachten Rezepten völlig neuen Herausforderungen begegnet. [9] Daß es diese Herausforderungen gibt, ist - so meine ich - unumstritten. Die Aufgaben und Handlungsbedingungen der Politik haben sich infolge der deutschen Vereinigung sogar fundamental verändert. Dies gilt für nahezu alle Politikbereiche: Wirtschaftspolitik, Finanzpolitik, Sozialpolitik, die Außen- und Sicherheitspolitik, die Bildungspolitik, und so weiter.

1.1 Veränderungen im Institutionengefüge.

Auch das politische Institutionengefüge hat sich verändert: Während die Bundesrepublik nach außen Souveränität gewann, ist ihr innerer Aufbau komplizierter geworden. Anstelle von vormals elf gibt es jetzt 16 Bundesländer. Deren ökonomische Strukturen und Leistungskräfte divergieren so stark, daß hergebrachte Ausgleichsmechanismen zu versagen drohen wenn man an bisherigen Homogenitätsansprüchen festhält. [10] Außerdem wird die Unterscheidung von A- und B-Ländern gemäß ihrer parteipolitischen Stellung zur Bundesregierung fragwürdig angesichts einer vielfältigen, in den neuen Bundesländern zudem brüchigen Koalitionslandschaft. Die Zahl der den Parteienwettbewerb prägenden "relevanten Parteien" mit mehr als 2 Prozent Wählerstimmenanteil [11]hat sich von drei im Jahre 1980 auf sechs im Vereinigungswahljahr 1990 verdoppelt. [12] Dies alles kann, wenn nicht situative Besonderheiten entgegenwirken, die föderalen Verhandlungssysteme und die politischen Handlungsbedingungen auf Bundesebene nachhaltig beinträchtigen. Insbesondere die Bildung von Koalitionsregierungen in Bund und Ländern droht durch vereinigungsbedingte Veränderungen im Parteiensystem so kompliziert zu werden, daß nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Parteien ganz neue politische Frontstellungen und Unsicherheiten entstehen können.Weiterhin ist auf der Zwischenebene von Bund und Ländern sowie im Grenzbereich von Staat und Wirtschaft ein weitläufiger Treuhand-Komplex entstanden. [13] In seinem Zentrum steht die im März 1990 durch Erlaß des DDR-Ministerates gegründete Treuhandanstalt (THA). Den frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt nannte sie eine "für alle sechs ostdeutschen Landesregierungen sehr mächtigen Nebenregierung". [14] In ihr ist das Ziel des marktwirtschaftlichen Aufbaus rechtlich und organisatorisch verankert. Wir wissen inzwischen, daß diese Aufgabe auch in einem Jahrzehnt nicht vollständig erfüllt sein kann. Die Nebenregierung Treuhandanstalt wird daher zu einer Dauereinrichtung. Sie wird ihre nach 1994 verbleibenden Aufgaben als "Bundesanstalt für Vereinigungsbedingte Sonderaufgaben" (BVS) fortführen. Der Treuhand-Komplex ist schon heute reich an Formen der Politikverflechtung zwischen Bund und Ländern, der gemischtwirtschaftlichen Aufgabenerledigung und der "private-public-partnerships". Sie entwickelten sich ständig und können Vorbildcharakter für künftige Verwaltungsstrukturen gewinnen, soweit sie dem Leitbild des "schlanken Staates" folgen, in dem öffentliche Aufgaben an verselbständigte Verwaltungseinheiten und parastaatliche Trägerorganisationen ausgelagert sind. [15]

1.2 Institutionentransfer und Vereinigungskrise

Die skizzierten Neuerungen im Bund-Länder Verhältnis, im Parteiensystem und im Verwaltungsaufbau sind direkte und offenkundige Folgen der deutschen Vereinigung. Sie verändern das politische Akteursystem ohne daß damit zwangsläufig neue, innovativeProblemlösungen verbunden wären.Anpassungshandeln ist vielmehr an ein Programm geknüpft, das eigentlich die Kontinuität der alten Bundesrepublik sichern sollte. Die Übertragung der westdeutschen Institutionen in die neuen Bundesländer führte zu einer spezifischen Form der situativen Problemanpassung. Da die politischen Institutionen einschließlich aller gesetzlichen und untergesetzlichen Regelwerke der alten Bundesrepublik unverändert übertragen wurden, erwiesen sich die mit ihnen transferierten Problemlösungen oft als untauglich. Wo sie scheiterten kam es zu Anpassungshandeln auf der operativen Ebene der Vereinigungspolitik.Bevor ich diesen Übergang vom Programm des Institutionentransfers zum lokalen Anpassungshandeln in den Netzwerken der Vereinigungspolitik näher beschreibe, wäre allerdings eine Frage zu beantworten: Wie kam es zu der folgenreichen Entscheidung für die unveränderte Übertragung des gesamten westdeutschen Rechtssystems in die neuen Bundesländer. Die Frage ist deshalb zu stellen, weil maßgebliche politische Akteure die Vereinigung mit institutionellen Reformen verknüpfen wollten. Im Frühjahr 1990 hatte sich Ulf Fink, Mitglied im Bundesvorstand der CDU und einer der stellvertretenden DGB-Vorsitzenden, vehement dagegen ausgesprochen, die "in der Bundesrepublik bekannten Systemmängel unreflektiert auf die DDR zu übertragen". [16] Diese Meinung war noch viel ausgeprägter in der SPD anzutreffen und auch die FDP war bestrebt, die Vereinigung als ein Vehikel für ihre ordungspolitischen Ziele auszunutzen. Und auch etliche Interessenverbände - z.B. der AOK-Bundesverband und der Verband der Ersatzkassen" wandten sich - ich zitiere aus aus einer Pressemitteilung vom Frühjahr 1990 - "gegen eine kritiklose Übertragung bundesdeutscher Regelungen in die neuen Bundesländer".Wolfgang Schäuble begründete vor dem Hintergrund solch kritischer Stimmen die Entscheidung für den Beitritt nach Artikel 23 GG, weil - so schreibt er in seinem Buch "Der Vertrag", jeder andere Weg (namentlich eine Rekonstitution der Bundesrepublik nach Artikel 146) "auf etwas ganz neues hinausgelaufen" wäre, was vor allem die Bundesregierung im Unterschied zu vielen anderen politischen Akteuren unter keinen Umständen wollte. [17] Später hat sich dann selbst Schäuble kritisch zum Institutionentransfer geäußert, und zwar weil er in vieler Hinsicht für den Aufbau-Ost hinderlich gewesen ist. Ich darf noch einmal zitieren, und zwar den sächsischen Innenminister Heinz Eggert. Er schreibt in einem eben erschienen Aufsatz:"Wenn die Bundesrepublik Deutschland 1955 die Gesetzlichkeiten des Jahres 1993 gehabt hätte, dann hätte Ludwig Erhard noch soviele Zigarren rauchen können - der Wirtschaftsaufschwung wäre nie gekommen. Selbst einer der Architekten des Einigungsvertrages, Wolfgang Schäuble, stellt sich mittlerweile die Frage, ob es richtig war, die ganze Rechts- und Verwaltungsordnung von heute auf morgen in die neuen Bundesländer zu übertragen. Hätte man nicht besser Schwerpunkte setzen sollen?" [18]Der Institutionentransfer und mit ihm die Übertragung herkömmlicher Problemlösungen auf neue Sachverhalte gilt als einer der Gründe für die Vereinigungskrise, die spätestens 1992 weite Bereiche der Innen- und Außenpolitik erfaßt hatte. In der Wirtschaftspolitik war sie unübersehbar geworden, als der für seine neoklassische Orthodoxie bekannte Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Lage in seinem Jahresgutachten 1992 lapidar gestehen mußte: "Das Vertrauen in den mit viel Zuversicht eingeschlagenen marktwirtschaftlichen Weg ist erschüttert". [19] Zugleich empfahl er eine Anpassung des institutionellen Rahmens und der regulativen Politik an die neuen Problemlagen. [20]

2. Kompetenz-Schwierigkeitslücke im Vereinigungsprozeß

Angesichts der durch den Institutionentransfer mitverursachten Vereinigungskrise stellt sich umso dringlicher die Frage: Warum beharrte die Vereinigungspolitik trotz einzigartiger Herausforderungen zunächst und in vielen Bereichen sogar nachhaltig auf Konzepten, Instrumenten und Institutionen die unter ganz anderen Bedingungen in der alten Bundesrepublik entstanden sind? Sie wird einerseits mit Verweis auf "institutionelle Engpässe" des Regierungsystems beantwortet, wozu vor allem auch die föderale Politikverflechtung gezählt wird. [21] Zum anderen werden "Lethargie" [22], psychologische Streßreaktionen [23] und "Unkenntnis" bzw. Inflexibilität der politischen Führung [24] als Ursachen angeführt. Diese institutionellen und an Persönlichkeitsfaktoren festgemachten Erklärungen können - so meine ich - nicht ganz befriedigen, vor allem weil nach 1992 am Programm des Institutionentransfers deutliche Korrekturen sichtbar werden, die in den gleichen Institutionen und von den gleichen Akteuren bewerkstelligt wurden, die zuvor noch als Hemmfaktoren benannt werden.Um diesem Umschwung gerecht zu werden, ist den gängigen Erklärungen eine weitere hinzufügen, nämlich die Kompetenz-Schwierigkeitslücke, in welche die Politik aufgrund der Problemdynamik, der ständigen Überraschungen und Handlungsunsicherheiten unvermeidlich geraten mußte. Kompetenz-Schwierigkeitslücke bezeichnet im Anschluß an den Entscheidungstheoretiker Ronald Heiner die Distanz zwischen der Kompetenz der in der Vereinigungspolitik relevanten Akteure und der Schwierigkeit bzw. Neuartigkeit ihrer Aufgabe. [25] Wachsender Zeit- und Problemdruck bei gleichzeitiger Verknappung der Lösungsmöglichkeiten vergrößern diese Distanz. Die Folge ist, daß eine unerwartete Eröffnung von Handlungsspielräumen zwar Chancen erweitert, gleichzeitig aber die Möglichkeit rational-kalkulierter Chancenwahrnehmung einschränkt. Der in der Vereinigungspolitik beobachtbare Aufschub von Anpassungsverhalten erscheint vor diesem Hintergrund plausibel; ebenso die langsame Einstellung auf neue Verhaltensmuster im Gefolge veränderter Problemlagen.Das läßt sich für verschiedene Politikfelder belegen. Manow-Borgwardt berichtet in seiner Untersuchung zur Vereinigungspolitik im Gesundheitssektor von erratischen Strategieformulierungen der beteiligten Verbände und Parteien, die in den Monaten von März bis Juni 1990 letztlich doch zu einer gemeinsam verfolgten Politik des Status-quo Erhaltes führte. Ähnliche Umorientierungen sind Renate Mayntz zufolge im Forschungssektor zu beobachten, wo die westdeutschen Akteure spätetestens dann, als sie ihre eigene Identität und Integrität gefährdet sahen, die vollständige Umstrukturierung des ostdeutschen Forschungssystems nach westdeutschem Muster betrieben haben. [26] Ebenso scheint in den Debatten um die Neuordnung des föderalen Finanzausgleichs das status-quo Interesse in dem Maß zuzunehmen, in dem sich die künftigen Schwierigkeiten des Vereinigungsprozesses offenbaren. Viele Experten meinten, die Probleme der Einheit könnten nur durch eine grundlegende Finanzrefom bewältigt werden. [27] Dafür gab es auch gute Gründe - vor allem als bekannt wurde, daß keine Privatisierungserlöse der Treuhandanstalt anfielen und stattdessen langdauerende Aufbauhilfen in den Osten fließen müssten. Der Sachverständigenrat hatte daher in seinem Jahresgutachten 1992/93 eine Fundamentalreform des föderalen Finanzausgleichs vorgeschlagen. [28] Das Modell sah eine Absenkung der Ausgleichsintensität vor und sollte die Länder im Gegensatz zum bestehenden System vor wechselseitiger Ausbeutung schützen,, ja sie sogar anspornen, ihre originäre Finanzkraft zu steigern - ein Ziel, das in wissenschaftlichen Stellungnamen seit langem angstrebt wird.Tatsächlich ist auch hier eine Gelegenheit zur Reform verstrichen. Mit der Einbeziehung der neuen Länder in die bundestaatliche Finanzverfassung hat sich an der gewohnten Praxis nichts geändert. [29] Lediglich auf der Aufbringungsseite ergab sich eine neue Steuer- und Lastenverteilung zum Nachteil des Bundes. Ein aus Bayern kommender Vorschlag konnte sich gegenüber Reformüberlegungen aus Baden-Württemberg und Bremen sowie der Bundesregierung durchsetzen, weil er sich am engsten an das bestehende System anlehnte . Renzsch zeigt, daß in der wissenschaftlichen Diskussion zum föderalen Finanzausgleich der Reformbedarf überschätzt wurde, und gleichzeitig "die Reichweite kleinschrittiger Strukturanpassungen unterschätzt". [30] Die Logik des Anpassungsprozesses zielt nach seiner Beobachtung auf " die geringstmögliche Änderung des bestehenden Zustandes, die notwendig ist, um ein Problem zu lösen.[31] Er erklärt dies damit, daß Veränderungen aus der Sicht der Politik kontrollierbar bleiben müssen und daher eher vorsichtig angegangen werden. Das Ergebnis ist demnach keineswegs institutionellen oder kognitiven Beharrungskräften zuzuschreiben, sondern den Interessen aller an einer Situationsbeherrschung , die mit geringstmöglichen Risiken behaftet ist.Das Beharrungsverhalten, das im Programm des Institutionentransfers zum Ausdruck kommt, ist demnach eine rationale, Antwort auf die besondere Situation. Sie ist nicht ein Zeichen institutionellen, normationalen Handelns, sondern situativen, zweckrationalen Handelns. Die vorhandenen Leitbilder und Institutionen der Bundesrepublik konnten in einer turbulenten Umbruchsituation den situativen Handlungsbedarf der relevanten Akteure rascher, verlässlicher und kostengünstiger befriedigen, als es eine umfassende Problemanalyse je vermocht hätten.

2.1 Anpassungslernen in Politiknetzwerken

Die Frage nach vereinigungsbedingtem Wandel ist also bis dahin eindeutig negativ zu beantworten. Das Festhalten an hergebrachten Wahrnehmungen und Problemlösungen der alten Bundesrepublik heißt jedoch nicht, daß es überhaupt keine Anpassung an die veränderte Problemumwelt gegeben hätte. Wenn man fragt, wie solche Anpassungen der Vereinigungspolitik zustande kamen, ohne die sie zweifellos fundamental gescheitert wäre, stößt man auf eine Vielzahl informeller Arrangements. Sie finden sich in zahlreichen, von der Bundesregierung, Landesregierungen und der Treuhandanstalt eingerichteten Koordinationsgremien zum Aufbau-Ost. Neben der Treuhandanstalt, den Kommunen und den neuen Ländern ist vor allem die Regierungszentrale selbst, das Bundskanzleramt mit seiner Aufbaugruppe-Ost an informellen Problemlösungen beteiligt. Oft waren es Finanzierungskonzepte zur Rettung einzelner Unternehmen, die hier durch die Herstellung entsprechender Kontakte entstanden sind. In mehr als zwanzig Kanzlergesprächen zum Aufbau-Ost wurden unter anderem der "Solidarpakt", die "Bankeninitiative", die "Einkaufsoffensive-Ost" etc. vereinbart. [32] Zu den bedeutsamsten Koordinationsgremien gehört die "Ludewig-Runde". Sie tagte auf Einladung des Bundeskanzlers unter Vorsitz des wirtschaftspolitischen Kanzlerberaters Johannes Ludewig erstmals am 13. Mai 1991 und daraufhin in mehrwöchigen, zuweilen auch kürzeren Abständen meist in der Berliner Außenstelle des Bundeskanzleramtes. Aufgabe sollte es sein, die Umsetzung der Beschlüsse zum Aufbau Ost, die in den ersten Monaten des Jahres 1991 gefallen waren, zu begleiten und wohl auch wechselseitig zu überwachen. Mit Beginn des Jahres 1992 diente die Zusammenkunft auch der Vorbereitung von Gesprächen des Bundeskanzlers mit den Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer und dem Regierenden Bürgermeister von Berlin.Teilnehmer der "Ludewig-Runde" sind das Bundeskanzleramt, vertreten durch Ministerialdirektor Johannes Ludewig und den Leiter der Außenstelle Berlin, die Chefs der Staatskanzleien der neuen Bundesländer sowie der Generalbevollmächtigte der Treuhandanstalt. Hier wurden zum Beispiel die endgültigen Vergabekriterien für Hermes-Bürgschaften und ein Konzept für das Vermögensänderungsgesetz erarbeitet. Die Treuhandanstalt hat auf diesem Wege, aber auch im direkten Kontakt mit dem Bundestag und einzelnen Bundesministerien Gesetzgebungsinitiativen mitgestaltet. [33]Die meisten Gremien wurden nach Verabschiedung der zwischen den Beteiligten vereinbarten "Grundsätze zur Zusammenarbeit von Bund, neuen Ländern und Treuhandanstalt für den Aufschwung Ost" vom 14. März 1991 eingerichtet, so auch die Treuhand-Wirtschaftskabinette und die Treuhand-Monatsgespräche als Schnittstellen zwischen den Regierungen der neuen Länder und der Treuhandanstalt. [34] Die Aufbaugruppe im Bundeskanzleramt veranstaltet im übrigen seit Herbst 1992 in Problemregionen der neuen Länder auch sogenannte "Regionalgespräche", zu denen in Zusammenarbeit mit den Industrie- und Handelskammern alle regionalwirtschaftlich relevanten Akteure eingeladen werden. Dem Verwaltungsaufbau dienten weiterhin Kommunalkonferenzen, die abwechselnd von den Bundesministerien für Finanzen und Inneres für Landräte und Bürgermeister der neuen Bundesländer veranstalt wurden und an denen auch die mit der Vermögenszuordnung betrauten Treuhandstellen teilnahmen. Es gibt für eine solch umfängliche Befassung der Regierungszentrale mit Entwicklungsproblemen einzelner Regionen und Kommunen in der Geschichte der Bundesrepublik kein Vorbild.Problemadäquate Reaktionen der Politik finden sich, wenn man von der allerersten Phase zwischen dem Mauerfall und der Entscheidung für die Wirtschafts- und Währungsunion absieht, vor allem dort, wo dezentrale Anpassungsprozesse stattfanden. In den um die Treuhand gebildeten Kontaktnetzwerken der Vereinigungspolitik konnten die Problemlagen besser zur Geltung kommen als aus der Warte einzelner Bearbeiter etwa in einer Treuhandabteilung oder im Finanzministerium, die zwangsläufig immer nur einen kleinen Problemausschnitt wahrnehmen konnten.
Das Verhältnis von Kontinuität bzw. Institutionentransfer und situativer Anpassung läßt sich im Zeitablauf idealtypisch folgendermaßen zusammenfassen: Wir haben zunächst die vollständige Kontinuierung der alten Bundesrepublik durch die Einigungsgesetzgebung. Darauf folgt eine Phase situativer Minimalanpassungen durch die Ausschöpfung von Elastizitätsreserven - von organizational slack - des politischen Systems. In einem dritten Schritt, bei Auszehrung dieser Anpassungsreserven, kommt es zur Ausfüllung von Regelungslücken durch strategisches Anpassungshandeln in den Netzwerken der Vereinigungspolitik.

2.2 Strukturwandel im Gefolge neuer "Policies"

Man kann demnach typischerweise die folgenden Problemlösungsansätze unterscheiden: 1. Herstellung der Einheit durch Gesetz. 2. Ausschöpfung von - meist dezentralen - Anpassungsreserven. 3. Strategisches Anpassungshandeln in den Netzwerken der Vereinigungspolitik. Daraus entsteht ein Vierfelderschema, das Kontinuität und Anpassung in Anhängigkeit von formaler und informaler Politik darstellt (Schaubild: Institutionentransfer und situative Anpassung).

Schaubild Phasenzyklus - 25,34 K



Die ersten beiden Handlungsformen - Einigungsgesetzgebung und Ausschöpfung von Anpassungsreserven - kontinuieren die alte Bundesrepublik. Die strategische Interaktion in den Netzwerken der Vereinigungspolitik bringt dagegen nicht nur neue Problemlösungen ins Spiel, sondern auch Abweichungen prozeduraler Art, die von Fall zu Fall in Reparaturgesetzen nachholend kodifiziert werden. Auf diese Weise gelangt das politische System schrittweise in den Zustand einer neuen Üblichkeit, die man als "Dritte Republik" bezeichnen könnte.Das läßt sich am Beispiel der Arbeitsmarktpolitik zeigen. Der marktwirtschaftliche Umbau verursachte eine Beschäftigungskrise ungeahnten Ausmaßes, die mit den Instrumenten des Arbeitsförderungsgesetzes nicht bewältigt werden konnte. [35] Noch ehe mit den Sondervorschriften des erst zum 1. Januar 1993 novellierten Arbeitsförderungsgesetzes eine großangelegte aktive Arbeitsmarktpolitik der Bundesanstalt für Arbeit möglich wurde, sind Ländern und Kommunen beschäftigungspolitische Aufgaben zugewachsen - und zwar in Abkehr von dem in der alten Bundesrepublik Üblichen und außerhalb des durch Gesetz gedeckten Verwaltungsaufbaus. Die Kommunen sind z.B. in Sachsen an einem Drittel der dort bestehenden Beschäftigungsgesellschaften beteiligt. Wie sich dies in Zukunft auswirken wird, ist offen. Es ist denkbar, daß angesichts der Entkoppelung von Wachstum und Beschäftigung auf diesem Gebiet ein nachhaltiger Aufgabenwandel einsetzt, der auch auf Westdeutschland übergreift. Die Anwendung der Sondervorschriften-Ost auch auf die westdeutsche Arbeitsmarktpolitik wird disktutiert. Dies bedeutete die Institutionalisierung eines zweiten Arbeitsmarktes - die Beschäftigung von Arbeitslosen in lohnsubventionierten Beschäftigungsgesellschaften, die von den verschiedensten Trägerorganisationen betrieben werden - unter anderem von den Kommunen oder mit kommunaler Beteiligung. Dadurch verändert sich auch die Struktur der Arbeitsverwaltung. Ihre zentrale Programmierung, wie sie bei der nur kompensatorischen Bewältigung individueller Arbeitslosigkeit noch möglich war, gerät in die Krise, weil der "zweite Arbeitsmarkt" erhebliche Koodinationsprobleme aufwirft und Handlungsspielräume vor Ort erfordert. Eine künftige Dezentralisierung der Arbeitsverwaltung, wie sie auf Länderebene gelegentlich gefordert wurde, erscheint vor diesem Hintergrund unausweichlich.Ein vom Westen abweichender Aufgabenzuwachse der Ost-Kommunen ist vor allem auf dem Gebiet der sozialen Dienstleistungen feststellbar. 1991 waren zum Beispiel 91 Prozent der Jugendhilfeeinrichtungen der neuen Bundesländer und Ost-Berlins in öffentlicher Hand, weil freie Wohlfahrtsverbände, die in der alten Bundesrepublik die Mehrzahl (69 Prozent) dieser Einrichtungen tragen, nicht vorhanden sind, oder sich diese Aufgabe nicht aufbürden wollten, oder weil die selbstverwalteten Ostkommunen das Leitbild öffentlicher Aufgabenerfüllung in der Jugendhilfe pflegen. [36]

2.3 Regelverletzungen und Reparaturgesetze

Bei den Abweichungen von dem Programm des Institutionentransfers handelt es sich zunächst nur um die Ausschöpfung von Elastizitätsreserven, durch die die Kontinuität der alten Bundesrepublik nicht unmittelbar gefährdet wird. Solche pragmatische, informelle und durchaus innovative Problemlösungen lassen als vereinzelte lokale Maßnahmen das politische Institutionensystem unverändert. Solange sie nur dessen Elastizitätsreserven ausbeuten, also auf "organizational slack" [37] zurückgreifen oder vorhandene Regelungslücken ausfüllen stabilisieren sie sogar das bestehende Regelsystem. Je mehr informelle Abweichungen zusammenkommen, desto dringlicher stellt sich jedoch die Frage nachhaltiger Anpassungen im institutionellen Akteursystem. Dies liegt daran, daß Regelverletzungen, wenn sie gehäuft auftreten, Inkompatibilitäten hervorkehren, die dann in der Form externer Effekte massive Störungen verursachen.Es ist wie im Straßenverkehr: Wenn ab und zu ein Autofahrer die Verkehrsregeln verletzt, kann dies zur Verbesserung des Verkehrsflusses beitragen, wenn es die meisten tun, bricht der Verkehr zusammen. Solche Störquellen lassen sich nun in den Netzwerken der Vereinigungspolitik vielerorts ausmachen. Das eigentliche Problem bestand hier nicht darin, daß der Gesetzgeber und die Treuhandanstalt unkonventionelle Lösungen gescheut haben. Es resultiert daraus, daß es sie vor Ort trotzdem gegeben hat und dabei - meist unbeabsichtigt - prekäre Entscheidungen getroffen wurden mit unvorhergesehenen, schwer kontrollierbaren Konsequenzen.Der Institutionentransfer führte dazu, daß bestimmte Probleme unerkannt blieben und Regelungslücken entstanden, die zusammen mit Informationsdefiziten solche Fehlentscheidungen provozierten. So hat die Treuhandanstalt im Rahmen von Unternehmensverkäufen häufig auch die Privatisierung von Sportplätzen, Bildungseinrichtungen oder Gefängnissen betrieben, die früher Verwaltungseigentum waren, in der DDR aber den Kombinaten und VEBs übertragen wurden. [38] Da fand sich eine Rostocker Werft plötzlich im Besitz eines Gefängnisses, in dem zu DDR-Zeiten gefangene Werftarbeiter untergebracht waren, oder eines Landungssteges, der früher der Stadt gehört hatte. Solche Situationen waren vom Gesetzgeber nicht vorgesehen. Die aus einer DDR-spezifischen Aufgabenabgrenzung zwischen Staatsverwaltung und Staatswirtschaft resultierende Transferproblematik war überhaupt nicht bedacht worden, obwohl dazu Informationen vorlagen. Die Treuhandprivatisierer wurden gleichwohl überrascht und mußten, soweit entsprechende Revisionsklauseln in den Verträgen vereinbart und Grundbucheinträge noch nicht erfolgt waren, solche Privatisierungsentscheidungen auf der Grundlage eines novellierten Vermögenszuordnungsgesetzes und einschlägiger Gerichtsurteile zurücknehmen. [39] Damit sind wir bei dem Phänomen der Reparaturgesetzgebung und der nachholenden Kodifizierung informeller Problemlösungen angelangt. Bereits im Frühjahr 1991 und verstärkt im Verlauf des Jahres 1992 gab es Neuregelungen, die frühe Fehleinschätzungen oder Versäumnisse korrigieren sollten. Dazu gehören das Hemmnisbeseitigungsgesetz und das Investititonsgesetz. Später sind es neben dem novellierte Arbeitsförderungsgesetz, das Treuhandanstalt-Kreditaufnahmegesetz, das Vermögenszuordnungsgesetz, das "Gesetz über die Vereinfachung und Beschleunigung registerrechtlicher und anderer Verfahren" vom 20. Dezember 1993 und zuletzt - im Jahre 1994 - das Treuhandstrukturgesetz.Aufschlußreich ist die Phasenabfolge im Gesetzgebungsprozess. Die Regelwerke der ersten Transformations- und Vereinigungsphase sind ganz vom Modell des Institutionentransfers geprägt - gleich, ob es sich um Gesetze der DDR-Volkskammer aus dem Vereinigungsjahr 1990, um den Einigungsvertrag oder um privatrechtliche Vereinbarungen unter Beteiligung der Treuhandanstalt (Stromverträge, Geschäftsbesorgungsverträge) handelt. [40] Bei dem mehrfach geänderten Vermögenszuordnungsgesetz, dem Investititonsvorranggesetz und dem Registerverfahrensbeschleunigungsgesetz [41] handelt es sich dagegen durchweg um "Reparaturgesetze" (G.F. Schuppert), die Mängel der frühen Regelwerke der Vereinigungspolitik ausbügeln sollten. Wesentliche "Reparaturen" betrafen zum Beispiel die Schmälerung des Prinzips der Rückübertragung von Alteigentum zugunsten des Investititonsvorranges, die Klärung strittiger Fragen im Aufgabenzuschnitt des öffentlichen Sektors, die Beschleunigung der Vermögenszuordnung oder die Vereinfachung von Verwaltungsverfahren.Fast durchwegs kamen die Anregungen zur Gesetzgebung aus dem unmittelbaren Vereinigungsmanagement. Die Treuhandanstalt gab zum Beispiel den Anstoß zu einzelnen Regelungsinhalten des Vermögenszuordnungsgesetzes, des Investitionsvorranggesetzes, zur Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes, zum Treuhandanstalt-Kreditaufnahmegesetz und zu dem erst im Dezember vergangenen Jahres verabschiedeten "Gesetz über die Vereinfachung und Beschleunigung registerrechtlicher und anderer Verfahren". [42]Die Reparaturgesetzgebung und nachholende Kodifizierung informeller Praktiken des Vereinigungsmanagements schließen den Kreis von Kontinuität und Anpassung. Damit entsteht eine dynamisierte Kontingenztafel, die durchaus prognostischen Wert besitzt (Schaubild: Institutionentransfer und situative Anpassung). In vielen Politikfeldern befindet sich die Vereinigungspolitik erst im zweiten oder dritten Quadranten, und sie kann dort lange verweilen - denken Sie zum Beispiel an die Agrartransformation, die auf Jahrzehnte ausgelegt ist, oder den spannungsreichen Transformationsprozeß im Energiesektor, wo das in Westdeutschland übliche unter anderem durch Vorgänge in den neuen Bundesländern strittig geworden ist.

3. Logik der Vereinigungspolitik

Damit stellt sich abschließend die generelle Frage nach der Voraussehbarkeit und Steuerungsfähigkeit in der Vereinigungspolitik. Die Vorstellung, daß Umbruchsituationen erweiterte Gelegenheiten schüfen, die sich leichthin realisieren ließen, ist von den bisherigen Erfahrungen widerlegt worden. Die Geschichte hat sich nach 1989 als ein unerwartet offener Prozess erwiesen. Darin sind Chancen gesehen worden, ohne zu bedenken, daß mit der Dynamik und Offenheit einer Entwicklung ihre politische Lenkbarkeit keineswegs wächst sondern - im Gegenteil - abnimmt. [43] Wer heute - wie Jürgen Habermas - kritisch von gelähmter Politik [44] spricht, sollte bedenken, daß es diese Politik vielfach mit gesellschaftlichen Prozessen zu tun hat, die - durchaus wünschenswert - außerhalb politischer Kontrolle ablaufen. Die Dynamik gesellschaftlicher Prozesse ist eine der Ursachen politischen Unvermögens; zugleich trägt sie den Keim neuer Problemlösungen in sich. Die in turbulenten Prozessen wie der deutschen Vereinigung kaum beeinflußbare Entwicklung der Sachprobleme und Interessenkonflikte verändern nämlich nach und nach die Handlungsbedingungen der Politik. Zum einen bewirkt sie neue Wahrnehmungsmuster und Präferenzänderungen bei den betroffenen Akteuren, die sich in zeitraubenden Interaktionen zu neuen kollektiven Wirklichkeitsbildern verdichten. Zum anderen kann Politik einen Prozeß erst steuern, wenn sie sich seiner Komplexität hinreichend bemächtigt hat. Auch dies erfordert Zeit. Und es bedeutet vor allem, daß schleichende Anpassungen an neue Handlungsbedingungen viel wahrscheinlicher sind als ruckartige Veränderungen - ganz unabhängig davon, wie die politische Institutionen beschaffen sind.Der Verlauf in den ersten, von Kontinuität geprägten Phasen könnte als Bestätigung institutioneller Beharrungskräfte gelten, die nur in Performanzkrisen Anpassungshandeln zulassen. Diese institutionalistische etwa von Johan Olsen vertretene These erscheint vor dem Hintergrund der Vereinigungspolitik modifizierungsbedürftig. [45] Der Politikverlauf deutet darauf hin, daß situative Komplexität die bedeutsamere Handlungsschranke darstellt. [46] Kontinuität der Politik folgt nicht notwendig aus institutionellen Restriktionen, sondern aus einem dominanten Interesse an Situationsbeherrschung, das umso mehr in den Vordergrund tritt, je unberechenbarer die Situation wird. Anpassung erfolgte dabei im Interesse reibungsloser Aufgabenerledigung auf der operativen Ebene von Politik und Verwaltung und keineswegs in der Form eines policy-designs, wie es Phasenmodelle der technokratischen Politikfeldanalyse erwarten ließen. Die Politik wurde vielfach im Vollzug gemacht.Es geht bei dem dort vorfindbaren Anpassungshandeln auch nicht in erster Linie um die kognitive oder affektive Flexibilität individueller oder korporativer Akteure, sondern um Reaktionen auf Umweltveränderungen in weitläufigen Akteursnetzwerken. In unserem Fall hat sich die Zahl der interessierten und beteiligten Organisationen ständig vergrößert. Die Regierungen der fünf neuen Länder, zahlreiche Behörden des Bundes, gesellschaftliche Interessenverbände und Finanzierungsinstitutionen betraten nach und nach den Schauplatz der ökonomischen Transformationspolitik, auf dem zuerst die Treuhandanstalt tätig geworden war. Damit treten Interaktionsprobleme zwischen den am Aufbau-Ost beteiligten staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren ins Blickfeld. Deren Bewältigung - etwa durch Kompromißhandeln - bildet den Grundstein für die Erprobung neuer Problemlösungen. Die Strategie der rationalen Problemvereinfachung im Vereinigungsprozess wurde mit dem Aufkommen neuer Akteure - besonders der Treuhandanstalt und der neuen Länder - erschwert, weil diese Akteure näher an den Problemen operierten und in dem ab 1991 ständig erweiterten Netzwerk der Vereinigungspolitik stetig mehr Interessen artikuliert wurden. Dadurch konnte die tatsächliche Problemstruktur besser erkannt werden, als dies in den vergleichsweise kleinen und problemfernen Kreisen der Anfangsphase möglich war.In den Netzwerken der Vereinigungspolitik haben sich die Probleme des Aufbaues-Ost zu neuen, situationsgerechteren Wirklichkeitsbildern verdichtet. Auf diese Weise wurde die anfängliche Kompetenz-Schwierigkeitslücke langsam geschlossen. Nicht der hierarchische Verwaltungsstaat, dem oft das größere Handlungsvermögen zugesprochen wird, sondern die vernetzten Strukuren des informellen Vereinigungsmanagements bildeten den Nährboden für Innovationen, die auf die formale Ebene des Regierungssystems zurückwirken. Die Erwartung einer gezielten und zudem richtungsstabilen Systemanpassung - der baldige Übergang in eine "Dritte Republik" - mußte aus diesen Gründen notwendig enttäuscht werden; ebenso die Vorstellung, die deutsche Einheit bedeute lediglich eine Gebietserweiterung, die im Westen alles beim alten ließe. Was wir vor uns sehen, ist die langsame, verzögerte Anpassung an neue Herausforderungen, deren Ursachen ich mit diesem Vortrag darlegen wollte. Der Schleichweg in die "Dritte Deutsche Republik" schließt an den Entwicklungspfad der alten Bundesrepublik an, setzt ihn aber
 nicht geradlinig fort. Und er scheint unaufhaltsam.

Literaturverzeichnis


Fußnoten

[*] Bei dem Beitrag handelt es sich um eine durch Zitationen und Zwischentitel ergänzte Antrittsvorlesung vom 25. Mai 1994, die der Autor anläßlich seiner Ernennung zum Privatdozenten der Faktultät für Verwaltungswissenschaft an der Universität Konstanz gehalten hat.
[1] ... in seiner Rede nach der Wahl zum Bundespräsidenten am 23. Mai 1994. Vlg. FAZ v. 25. Mai 1994: 4.

[2] Ritter 1979: 37-38.
[3] Vgl. zum Begriff des "organizational slack": Cyert/March 1963, 37-38
[4] Dies ist ein policy-analytisches Vorgehen (Lowi 1964, Windhoff-Héritier 1987), das - ebenso wie organisationswissenschaftliche Kontingenztheorien (Thomson/Tuden 1959, Emery/Trist 1965, Thomson 1967) - den äußeren Herausforderungen an ein Handlungssystem stil- und strukturprägende Eigenschaften zubilligt. Es steht in Kontrast zu den in der Vereinigungsforschung vorherrschenden ökonomischen Analysen und zu Ansätzen der Politikwissenschaft, die auf institutionelle Beharrungskräfte abheben und darüber die Freiheitsgrade politischen Handelns eher gering einschätzen.
[5] Vgl. Habermas' Beitrag "Gelähmte Politik" in "Der Spiegel" vom 12. Juli 1993 (S.50) sowie seine Aufsatzsammlung mit dem bezeichnenden Titel "Vergangenheit als Zukunft"; Habermas 1993b.
[6] Baring 1993: 12.
[7] Baring 1994: 12)
[8] so Hankel 1993. Ähnlich: Schmidt 1993; Dettling 1994.
[9] Lehmbruch 1991, 1992, 1994; Seibel 1992b.
[10] Biedenkopf 1994: 63)
[11] Beyme 1992: 327.
[12] Mehr als zwei Prozent der Gesamtstimmen erhielten neben CDU/CSU, SPD und FDP, Grünen und Republikanern die beiden damals nur in den neuen Bundesländern wählbaren Parteien: PDS und Bündnis90. Die PDS wird aller Vorausssicht nach in den Landtagen der neuen Bundesländer ihre Stellung laängerfristig halten und mancherorts sogar ausbauen können.
[13] Hierzu: Schuppert 1992, Czada 1993, Czada 1994.
[14] H. Schmidt 1993: 110, 32)
[15] Das Konzept des "schlanken Staates" meint die Auslagerung von Staatsaufgaben auf verselbständigte Verwaltungseinheiten und parastaatliche Aufgabenträger. Nach Vorstellungen dieses z.B. in Brandenburg kursierenden Verwaltungsreformkonzepts soll auf diese Weise das Regierungszentrum entlastet und aufgrund größerer Problemnähe und Flexibilität die Effizienz der Aufgabenerledigung gesteigert werden.
[16] zit. nach Manow/Borgwardt 1993: 40.
[17] Schäuble 1991:115-116.
[18] Egger 1994, 23.
[19] SVR 1992: 179.
[20] SVR 1992: 180; SVR 1991: 167; Hüther 1993: 31, 37).
[21] zuerst: Lehmbruch 1991: 598-600.
[22] Baring 1993: 12.
[23] Seibel 1992:340.
[24] H.Schmidt 1993: 24, 29-35; Hankel 1993.
[25] Heiner 1994.
[26] Mayntz 1992: 52-77.
[27] Scharpf 1990; Mäding 1991; Lehmbruch 1991; SVR 1992.
[28] SVR 1992: 212-217.
[29] Rentzsch 1994: 124.
[30] ebenda: 135.
[31] ebenda.
[32] Czada 1993, Sally/Webber 1994.
[33] Die Treuhandanstalt gab zum Beispiel den Anstoß zu einzelnen Regelungsinhalten des Vermögenszuordnungsgesetzes, und des Investitionsvorranggesetzes (Interview mit Martin Keil, THA-Abt. Recht, am 23.2.1993), zur Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes (Interviews mit Werner Bayreuther am 24.2.1993, Peter Gemählich am 5.4.1993, beide THA-Abt. Personal; Arbeit und Soziales) und zum Treuhandanstalt-Kreditaufnahmegesetz (Interview mit Dr. Paul Hadrys, THA-Abt. Finanzen am 6.4.1993).
[34] Czada 1993: 153.
[35] Vg. Heinelt/Bosch/Reissert 1994.
[36] Deiniger 1993.
[37] Cyert/March 1963:37-38.
[38] Vgl. König/Heimann 1993.
[39] Das entsprechende Grundsatzurteil wurde erst im Frühjahr 1994 gefällt - zu spät um alle Fehlentscheidungen revidieren zu können (BVerwG. 7C 34.93 v. 24. März 1994).
[40] Für den Einigungsvertrag hat der westdeutsche Verhandlungsführer Wolfang Schäuble die Vereinigung durch Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes vehement verteidig, weil jeder andere Weg (Artikel 146) "auf etwas ganz neues hinausgelaufen" wäre, was die Regierung man unter keinen Umständen wollte (Schäuble 1991:115-116).
[41] Bereits im Frühjahr 1991 novellierte das Hemmnisbeseitigungsgesetz ein Bündel von Gesetzen sowohl des Bundestages als auch der Volkskammer aus der ersten Transformationsphase, die dem wirtschaftlichen Aufbau entgegenstanden. Darauf folgten weitere "Reparaturgesetze", so das "Gesetz über den Vorrang für Investititonen bei Rückübertragungsansprüchen nach dem Vermögensgesetz vom 14. Juli 1992 (BGBl. I, 1257, 1268), das "Gesetz über die Feststellung der Zuordnung von ehemals volkseigenem Vermögen" vom 3. August 1992 (BGBl. I, 1464), das "Gesetz über die Vereinfachung und Beschleunigung registerrechtlicher und anderer Verfahren" vom 20. Dezember 1993 (BGBl I, 2181).
[42] Interviews 930224a, 930405a, 930406.
[43] Die prekären Erfolgsbedingungen politischer Eingriffe in eigendynamische gesellschaftliche Teilsysteme hat die sozialwissenschaftliche Forschung zur Steuerung komplexer Industriegesellschaften eindrucksvoll bestätigt, vgl. Mayntz 1987.
[44] Habermas 1993a: 50.
[45] Olsen 1991.
[46] Vgl. Scharpf 1972.