Vortrag in der Evangelischen Akademie Loccum am 6. Juni 1998. Erschienen in: Calließ, Jörg (Hrsg.), 1999: Aufstieg und Fall des Sozialstaates. Oder: Wie der Sozialstaat zum Fall wurde. Loccum: Loccumer Protokolle 24/98, 77-87.
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Staat und Innenpolitik
 
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Welten der Wohlfahrt

Probleme der Sozialpolitik in einer entgrenzten Welt

Roland Czada

 
Für die Wirtschaft verlieren Grenzen immer weiter an Bedeutung. Zugleich bleiben aber die sozialen Grenzziehungen zwischen und innerhalb von Staaten bestehen. Mancherorts verschärfen sich die sozialen Probleme - Arbeitslosigkeit, Gesundheitsrisiken, Armut - in einem Ausmaß, das nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte kaum jemand erwartet hätte. Die Entwicklung der Wohlfahrtsstaaten ist offenkundig an einer Wegscheide angelangt. Oft gelten sie nicht mehr wie einst als Problemlöser sondern als Problemerzeuger. Die Ursachen und Lösungsmöglichkeiten gegenwärtiger Probleme der Sozialpolitik stehen im Mittelpunkt dieses Beitrages. Dabei soll der Zusammenhang von Wirtschaftsentwicklung und Sozialpolitik sowie dessen politische Gestaltbarkeit besondere Beachtung finden.

   Ökonomisch wächst die heutige Welt rascher und enger zusammen denn je. Die Politik versucht, diesem seit dem Kollaps der sozialistischen Staatenwelt entfesselten Trend zu folgen. In einigen Politikfeldern, zum Beispiel in der Finanzmarktregulierung, im Umweltschutz oder im Verkehrswesen schreitet die internationale und transnationale Zusammenarbeit tatsächlich rasch voran. Bald wird es - erstmals in der Geschichte - eine gemeinsame europäische Währung geben, deren Gültigkeit vom Polarkreis bis nach Sizilien reichen soll. Die internationale Verflechtung und das Zusammenwachsen der Staaten und Gesellschaften wird von vielen als Fortschritt gepriesen (Beck 1997). Für die Sozialpolitik aber versursachen solche Entgrenzungsprozesse ein ganzes Bündel von nahezu unlösbaren Problemen. Sie resultieren aus der erhöhten und grenzenlosen Mobilität von Kapital, Arbeitskräften, Waren und Dienstleistungen.

    Wenn Investoren etwa in der Europäischen Union ihr Kapital und damit Arbeitsplätze ungehindert dorthin lenken können, wo sie mit Steuern und Sozialabgaben am wenigsten belastet werden, entsteht rasch ein Unterbietungswettbewerb im Leistungsangebot der europäischen Wohlfahrtsstaaten. Wenn zudem Menschen ungehindert dorthin wandern können, wo sie – je nach individuellem Bedarf – die geringsten Sozialbeiträge oder die besten Leistungen erwarten dürfen, verschärft sich das Problem. Die Mobilität von Kapital und Arbeit setzt die Wohlfahrtsstaaten mit hohen sozialen Leistungsstandards unter Anpassungsdruck. Die Entgrenzung der Wirtschaft ist allerdings nicht die einzige und vor allem nicht die wesentliche Ursache für die Krise des Wohlfahrtsstaates. Sie ist vielmehr der Grund für eine schwindende Fähigkeit der Nationalstaaten, die mannigfaltig verursachten sozialen Probleme der Gegenwart zu lösen.

    Die unmittelbaren Ursachen der Krise des Wohlfahrtsstaates liegt in zunehmenden Leistungsangeboten und -ansprüchen bei schwindenden Finanzierungspotentialen der sozialen Sicherungssysteme. Das immense Wachstum der Kosten für sozialen Sicherheit folgt aus der Zunahme der Arbeitslosen, der Altersrentner und ihrer höheren Lebenserwartung sowie aus den Kosten der modernen Apparatemedizin. Darüber hinaus bestehen kaum Anreize, das Leistungsangebot des Wohlfahrtsstaates zurückhaltend und sparsam auszuschöpfen. Die geringen Wachstumsraten und der internationale Wettbewerb erlauben es zugleich nicht, die Unternehmen und Arbeitnehmereinkommen mit höheren Kosten zu belasten.

    Kurz zusammengefasst: Während die Zahl und das Erwartungsniveau der anspruchsberechtigten Empfänger von Sozialleistungen weiter zunimmt, wird der technische, bürokratische und finanzielle Aufwand größer, der Umverteilungs- und Finanzierungsspielraum wegen des verschärften internationalen Wettbewerbs der Industriestandorte aber immer kleiner. Die Sozialpolitik muß sich in dieser durch gesellschaftliche, demografische, ökonomische, technologische und globale politische Entwicklungen entstandenen Zwangslage einrichten. Welche Möglichkeiten sie hat, die anstehenden Probleme zu lösen, soll im folgenden diskutiert werden.

 

Sozialpolitik bleibt nationale Angelegenheit

 

Wirtschaftlich rückt die Welt zusammen, sozial bleibt sie auf absehbare Zeit gespalten. Während sich im Zuge der Globalisierung von Wirtschaft und Finanzen eine neue kapitalistische Welteinheit mit immer weiter angenäherten ökonomischen Rechtsnormen und technischen Standards herausbildet, leben einzelne Nationen und Kulturkreise weiterhin in ganz verschiedenen Welten der Wohlfahrt. Fragen der Einkommensverteilung, die Sozialpolitik und die Lohnpolitik, das Gesundheits- und Bildungswesen bleiben nationale Angelegenheiten. Damit bleiben auch die materiellen Lebensbedingungen und gesellschaftlichen Strukturen von Land zu Land unterschiedlich.

    Die Möglichkeiten nationaler Wirtschafts- und Sozialpolitik sind inzwischen eng begrenzt. Der einstige Glaube, die Politik könne mittels keynesianischer Wirtschaftssteuerung die Arbeitslosigkeit auf Dauer beseitigen und kontinuierliches Wirtschaftswachstum garantieren, ist von der Wirklichkeit widerlegt worden. Nationale Wirtschaftspolitik dieser Art ist nur möglich, wenn die Wechselkurse einer Währung durch internationale Übereinkommen stabil sind und der Kapitalverkehr, insbesondere der Devisenhandel, kontrolliert werden kann. Dieser in den ersten Nachkriegsjahrzehnten herrschende Zustand, in dem Wirtschafts- und Sozialpolitik als eine Einheit gesteuert werden konnten, ist nicht mehr rückholbar. Es sind nämlich die ökonomischen Kräfte selbst, die sich bei der Herausbildung eines grenzenlosen Weltmarktes Bahn brechen und die kein einzelner Staat aufhalten kann. Zwar haben die Staaten und die internationale Staatengemeinschaft durchaus Mittel, diesen Prozeß in gewisse Bahnen zu lenken. Wer sich jedoch der Expansion der Weltmarktes – etwa durch protektionistische Politik - entgegenstellt, wird von ihm ausgelöscht.

    Die Politik vollzieht, auch wenn sie regulierend tätig wird, vielfach nur das, was der Weltmarkt für sein reibungsloses Funktionieren fordert. Jede Regierung, jede politische Partei erhofft sich dabei das Beste für ihr Land oder ihre Anhänger. Der Prozeß der globalen Entgrenzung bringt zweifellos gewaltige ökonomische Effizienzvorteile und Wachstumsgewinne. Alle wollen in dieser Hinsicht von der Globalisierung profitieren. Aber nicht alle werden vermutlich davon profitieren können. Die Beantwortung der Frage, wem sie letztlich nützen, wem schaden wird, hängt ganz wesentlich davon ab, wie die nationale Wohlfahrtsstaatsentwicklung die Position einer Volkswirtschaft im internationalen Wettbewerb beeinflußt. Da keine einzelne Regierung - mit Ausnahme vielleicht der amerikanischen - den Kurs der Globalisierung in hinreichender Weise steuern kann, bietet allein die nationale Gesellschafts- und Sozialpolitik Möglichkeiten, sich auf deren Herausforderungen einzustellen. Also ist der Wohlfahrtsstaat als politische Eingriffstelle in die gesellschaftliche Entwicklung nicht unwichtiger geworden. Im Gegenteil, die Sozialpolitik ist das im Zeitalter der Globalisierung einzig verbleibende Gestaltungsfeld, auf dem nationale Regierungen über die gesellschaftliche Zukunft eines Landes weitgehend selbst entscheiden können.

    Das Problem, dem die Sozialpolitik entgegensieht, besteht darin, daß trotz ökonomischer Globalisierung und Vereinheitlichung die Grenzen und Unterschiede zwischen den sozialen Sicherungssystemen der hochindustriealisierten Länder vorerst bestehen bleiben. Großtheoretiker der Globalisierung, wie der Münchener Soziologe Ulrich Beck (1997) haben die politischen und organisatorischen Aspekte dieses Problems verharmlost oder ganz aus ihren Analysen ausgeklammert. Sie begrüßen die aus der Globalisierung notwendigerweise folgenden sozialen Umwälzungen, ohne recht zu bedenken, daß man ein in hundert Jahren gewachsenes, hochkomplexes soziales Sicherungssystem nicht einfach und rasch verändern kann. Die Reform des Sozial- und Wohlfahrtsstaats kann kurzfristig nicht gelingen, ohne gravierende Kosten und Ungerechtigkeiten in Kauf zu nehmen. Der hastige Umbau eines jeden hochorganisierten sozialen Systems birgt Risiken, die bis zum drohenden Verlust der Situationsbeherrschung und zur Zerstörung mühsam erreichter Grade der Sozialintegration und gesellschaftlichen Befriedung reichen können.

 

Wohlfahrtsstaatstypen und Reformalternativen

 

In welcher Weise steht der Wohlfahrtsstaat unter Reformdruck? Das Symptom ist hier immer dasselbe, nämlich eine Kosten- und Finanzierungskrise. Die Ursachen sind vielfältig. Soziale Leistungen werden aufgrund ihres Kollektivgutcharakters leicht überbeansprucht und damit insgesamt teurer. Es ist wie die mittelalterliche Allmende, die, weil sie allen zur Verfügung stand, stets von Überweidung bedroht war. Im Gesundheitswesen führen die Apparatemedizin und höhere Lebenserwartungen zur Verteuerung. Massenarbeitslosigkeit, oder eine historische Ausnahmesituation wie die deutsche Vereinigung können ein soziales Sicherungssystem bis an den Rand des Zusammenbruchs belasten. Wie viel Sozialstaat eine Volkswirtschaft tragen kann, hängt von der ökonomischen Leistungsfähigkeit eines Landes ab. Wenn die Kosten in der Form von Steuern und Sozialgaben so hoch werden, daß sie die Leistungsbereitschaft schmälern, die wirtschaftliche Dynamik drosseln, Arbeitslosigkeit verursachen und damit die Finanzierungsgrundlagen weiter schmälern, kann die Wirtschaft in eine Niedergangsspirale geraten, die immer tiefer in die Krise führt. Das gilt nicht gleichermaßen für jedes soziale Sicherungssystem. Lohnarbeitszentrierte, beitragsfinanzierte, nicht-kapitalisierte Pflichtversicherungen, wie sie in Deutschland vorherrschen, sind für solche Niedergangspsiralen besonders anfällig. Um der Problematik weiter auf den Grund zu gehen, ist es nötig, die wichtigsten Typen des Wohlfahrtsstaates vorzustellen.

    Jeder Wohlfahrtsstaat hat seine eigene Geschichte, Organisation und Funktionsweise. Der deutsche Wohlfahrtsstaat hat seine historischen Wurzeln im Kaiserreich. Er basiert auf selbstverwalteten Pflichtversicherungen für Arbeitnehmer. Seine wesentlichen Funktionsprinzipien sind das sogenannte Äquivalenzprinzip und das Prinzip der unmittelbaren Verwendung von Beiträgen zur Finanzierung von Leistungen. Das bedeutet: Eine angemessene soziale Sicherheit muß durch Erwerbstätigkeit "verdient" werden. Es bedeutet weiterhin, daß Beiträge von den Versicherungsträgern nicht angespart (kapitalisiert) werden, sondern sofort den Leistungsempfängern zugute kommen.

    Der deutsche Wohlfahrtsstaat ist eine einmalige Konstruktion, die in genau derselben Form kein weiteres Mal auftritt. Ebenso sind die sozialpolitischen Regime in Schweden, England, den USA oder anderen Ländern historisch gewachsene, einmalige Gebilde. Im Jahr 1990 veröffentlichte der dänische Sozialwissenschaftler Gøsta Esping-Andersen seine bahnbrechende Studie "Three Worlds of Welfare Capitalism", in der er die Vielfalt sozialpolitischer Staatstätigkeit auf drei idealtypische Formen zuückführt. Ich möchte sie heute mit seinen Ergebnissen und einigen daran anschließenden Diskussionen bekannt machen.

    Die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung (Esping-Andersen 1990, Schmid 1996, Schmidt 1998) vermittelt drei Grunderkenntnisse:

  1. Jede Form von Sozialstaatlichkeit hängt eng mit Besonderheiten der Regulierung des Arbeitsmarktes zusammen. Die Art und Weise, wie wohlfahrtsstaatliche Politik die Verteilung von Lebenschancen und -risiken in einer Gesellschaft prägt, läßt sich im Kern auf Merkmale der Regulierung des Arbeitsmarktes und damit auf grundlegende Ansätze marktwirtschaftlicher Ordnung zurückführen (Esping-Andersen 1990: 21-23).

  2. Die Sozialpolitik eines jeden Lands ist durch das unterschiedliche Zusammenspiel öffentlicher und privater Sicherungsformen gekennzeichnet. Die wesentlichen institutionellen Sphären der Sozialpolitik sind: Staat, Markt, Familie, Verbände beziehungsweise Organisationen des "Dritten Sektors" zwischen Markt und Staat (Esping-Andersen 1990: 109).

  3. Jeder Wohlfahrtsstaat bewirkt bestimmte Prozesse sozialer Schichtung ("logic of statification", Esping-Andersen 1990: 23-26, 69). Auf diese Weise entwickelt er einen seiner Struktur und Funktionsweise entsprechenden Gesellschaftsaufbau (Schmidt 1998).

 

Tabelle I: Welten der Wohlfahrt

 

Politiktyp konservativ sozialdemokratisch liberal
Prinzip Paternalismus Solidarprinzip Selbstverantwortung
Ziel Statuserhalt Gleichheit  residuale Versorgung
Betriebsweise Versicherung Versorgung Fürsorge
Zentralinstanz Selbstverwaltung Staat Markt (Selbsthilfe)
Wirkung Segmentierung Inklusion Exklusion
Regulierung Arbeit/Nicht-Arbeit Arbeitsmarkt Entregulierung
Policy Kompensation Intervention laissez-faire
Beispiele Deutschland Schweden USA

 

Wie unschwer zu erkennen ist, entspricht die Dreiteilung von Schaubild I den klassischen gesellschaftlichen Spannungslinien, aus denen sich die modernen Parteiensysteme der meisten Industrieländer entwickelt haben. Der Konflikt zwischen herkömmlichen christlichen Werten und laizistischen Staatsvorstellungen führte zur Herausbildung christlich-konservativer Parteien und mit ihnen zu einem paternalistischen Prinzip der Sozialpolitik. Der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit, der die sozialistischen Parteien hervorbrachte, förderte demgegenüber die auf universelle Leistungsansprüche ausgerichteten Solidarsysteme. Und der Konflikt zwischen Freihandel und Protektionismus brachte die marktliberalen Parteien hervor, welche die auf Selbstverantwortung zielenden Aspekte der Sozialpolitik herausstreichen.

    Diese historischen, hundert Jahre zurückgehenden Konfliktlinien sind in den Parteiensystemen eingefroren worden. Zwischenzeitlich hat sich die Welt beträchtlich verändert. Die alten Konfliktlinien und das aus ihnen entstandene Parteiensystem gibt es zwar noch, es sind aber auch neue hinzugekommen. Ich sehe vor allem zwei neue Spannungslinien in der Gesellschaft.

    Einmal entstand in den siebziger und achtziger Jahren der Konflikt zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltschutz, der sich bereits in den meisten Industrieländern in der Gründung grüner Umweltparteien niederschlug. Zum zweiten sehe ich eine neue Konfliktlinie heraufziehen zwischen den Verteidigern nationaler Werte und einer fortschreitenden Entgrenzung und Transnationalisierung politischer Handlungsspielräume. Entlang dieser beiden Spannungsfelder schreitet die Ökologisierung und Internationalisierung der Politik unaufhaltsam fort. Die sie tragenden politischen Kräfte finden sich nicht nur in den Kleinparteien der Grünen und Liberalen. Auch die Großparteien sind mehrheitlich ökologisch, europäisch und globalistisch eingestellt. An ihrer Seite steht die Industrie, die sich, wie der Berliner Publizist Jan Ross (1998) schrieb, am besten in einer Öko-FDP wiederfände. Das Hauptproblem dieser Politik ist die Konzeption eines künftigen Wohlfahrtsstaates, der den Erfordernissen des globalen Kapitalismus genügen kann.

    Dieses Problem gehen wir am besten an, indem wir fragen: Wie lassen sich neue, globalisierungsfreundliche Problemlösungen, wie steuerfinanzierte Sozialleistungen, ein garantiertes Grundeinkommen, Bürgergehalt, negative Einkommensteuer, in das klassische Schema unseres Schaubildes einordnen? Wir begeben uns mit dieser Frage auf ein Terrain unsicheren Wissens. Niemand weiß, wie der künftige Wohlfahrtstaat aussehen wird. Aber es gibt Hinweise, die sich aus Problemen des Wirtschaftsstandortes, aus Gründen des ökologischen Wirtschaftens, der demografischen Entwicklung und aus der sozialpolitischen Programmatik der Parteien und Verbände entnehmen lassen. Sie deuten meines Erachtens auf zwei prinzipielle Möglichkeiten einer künftigen Wohlfahrtswelt hin, die ich ihnen zum Schluß kurz erläutern möchte (Schaubild II).

 

Tabelle II: Die neue Wohlfahrtswelt

 

Politiktyp ökoliberal kommunitarisch
Ziel Entkoppelung von Arbeitsmarkt und Sozialsystem Staatsentlastung Entbürokratisierung
Prinzip Grundversorgung kollektive Selbsthilfe
Betriebsweise verbrauchssteuerfinanziert welfare mix, Kapitalisierung von Leistungsansprüchen
Zentralinstanzen Staat und Markt Wohlfahrtsverbände und Versicherungen
Wirkung Dualisierung, zweiter Arbeitsmarkt Pluralisierung 
Regulierung negative Einkommensteuer, Kombi-Lohn korporative Selbstregulierung
Policy Ordnungspolitik Subsidiarität
Beispiele Holland, Dänemark Schweiz

 

Die künftige Struktur des Wohlfahrtsstaates richtet sich vor allem danach, welche Rolle der Staat im Verhältnis zum Markt und zur gesellschaftlichen Selbstorganisation darin haben wird. Im ökoliberalen Modell hätte der Steuerstaat einen zentralen Stellenwert. Der sozialstaatliche Ausgleich wird hier über eine steuerfinanzierte Grundsicherung bewerkstelligt. Um Arbeit und Einkommen nicht direkt zu belasten, müßten die Leistungen aus der Mehrwertsteuer finanziert werden. Hinzu kämen als weiterer Programmbestandteil Lohnkostenzuschüsse für niedrigproduktive Arbeitsplätze vor allem im Bereich arbeitsintensiver personenbezogener Dienstleistungen (Kombi-Lohn). Wenn das Grundeinkommen und der Kombi-Lohn wirksam sein sollen, und zugleich privatwirtschaftliche Versicherungen nicht bereits in großem Maße entwickelt wären, würde die im Staatssektor verbliebene soziale Umverteilung entsprechend hoch sein. Möglicherweise gerieten sogar die zur Staatsentlastung konzipierten Programme zu einer gigantischen staatlichen Umverteilungsmaschinerie.

    Grundeinkommen, negative Einkommenssteuer und Kombi-Lohn sind sozialpolitische Instrumente, die auf die Einrichtung eines geschützen, zweiten Arbeitsmarktes hinauslaufen. Dies hat eine Zweiteilung der Gesellschaft zur Folge. Auf der einen Seite stehen steuerzahlende Bürger, die aus eigenen Sozial- und Versicherungsbeiträgen ihre sozialen Risiken absichern können, auf der anderen Seite solche, deren Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt so niedrig bewertet wird, daß sie nur mit staatlicher Unterstützung Beschäftigung finden können. Damit entstünde eine neue Art der Koppelung zwischen Wohlfahrtsstaat und Wirtschaftssystem, die zu einer völligen Umformung des herkömmlichen Sozialstaatsmodells Deutschland führen müßte. Insbesondere müßte die Beitragsfinanzierung der sozialen Sicherungssysteme durch ein steuerfinanziertes Umverteilungssystem ersetzt werden. Um die Umverteilungsmassen in Grenzen zu halten, wäre zugleich die private Vorsorge über den Versicherungs- und Kapitalmarkt zu stärken.

    Staatsentlastung muß indessen nicht notwendigerweise die Stärkung von Marktmechanismen bedeuten. Ein möglicher Ausweg bestünde auch in der Ausweitung zivilgesellschaftlicher Selbsthilfe. Anders als anonyme individuelle Marktteilnehmer, die ihre Lebensrisiken privat versichern, helfen sich hier die Bürger in kollektiven Selbsthilfeeinrichtungen gegenseitig. Historische Vorbilder wären Solidarsysteme und Versicherungs- und Versorgungseinrichtungen auf Gegenseitigkeit, wohltätige Stiftungen, Selbsthilfegruppen, karitative Verbände, die keine Gewinne anstreben und daher Bedürftigen unabhängig von deren individueller Leistungsfähigkeit Hilfe anbieten können. Die Förderung gemeinnütziger Wohlfahrtsorganisationen war immer erklärtes Ziel der Politik konservativer und christlicher Parteien. Neuerdings entdecken auch Sozialdemokraten zunehmend die Vorzüge solcher staatsentlastenden Einrichtungen. Die auf den Gemeinsinn der Bürger gegründete Selbsthilfe (Kommunitarismus) wird ebenso wie das Konzept einer vom Staat verbürgten Grundsicherung künftige Reformen anleiten. Was sich dabei in welchem Maße durchsetzt, ist eine Frage von Interessenkonflikten und der politischen Kräfteverteilung. Hinzu kommen aber in jedem Fall ökonomische

Anpassungszwänge, die von außen auf die einzelnen Wohlfahrtsstaaten einwirken und Reformen in der einen oder anderen Weise erzwingen.

 

Beharrungskräfte und Verteilungskonflikte

 

Zum Wohlfahrtsstat gehörten nicht nur die sozialen Sicherungssysteme – Unfall-, Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung. Auch die Familienpolitik, das öffentliche Bildungswesen, das gebührenfreie Studium und viele weitere öffentlich bereitgestellte Infrastrukturen und Dienstleistungen sind Teile des Wohlfahrtsstaates. Da gerade in Deutschland die Mittelschichten besonders stark vom Wohlfahrtsstaat in diesem weiteren Sinne profitieren, ist es besonders schwer, mit grundlegenden Reformen anzusetzen.

    Die Entgrenzung der Wirtschaft hat dazu geführt, daß nicht nur die Sozialversicherungen unter Anpassungsdruck geraten. Auch das Bildungswesen und die gesamten öffentlichen Leistungen sind der internationalen Konkurrenz ausgesetzt. Wenn heute die Reichen ihre Kinder in den USA studieren lassen, weil sie dort gegen entsprechende Studiengebühren an kleinen aber feinen Lehrstätten besser ausgebildet werden können, und wenn diese Studierenden später die höherbezahlten Arbeitsplätze bekommen, dann ist auch die Erosion des höheren Bildungswesens in Deutschland vorprogrammiert. Der Wohlfahrtsstaat gerät hier wie insgesamt von außen unter Anpassungsdruck. Das bedeutet aber nicht notwendigerweise eine internationale Angleichung. Es gibt auch heute noch viele Wege der Sozialreform. Die Beharrungskraft etablierter administrativer Strukturen und ihre Verankerung in weitläufigen, historisch gewachsenenen politischen Handlungszusammenhängen sorgen dafür, daß abrupte Kursänderungen ausbleiben. Zudem unterscheidet sich der in demokratischen Wahlen zum Ausruck kommende Wille der Bevölkerungsmehrheit von Land zu Land. In Europa hat das auf Selbstverantwortung ohne Berücksichtigung individueller Leistungsfähigkeit bauende amerikanische System kaum Anziehungskraft gewonnen. Deshalb wird es aller Voraussicht auch noch im nächsten Jahrtausend nicht nur eine Welt, sondern mehrere Welten der Wohlfahrt geben.

    Die Forschung gibt dem Wohlfartsstaat trotz aller Schwierigkeiten eine Zukunft. Einigkeit herrscht aber auch darüber, daß seine Zukunftsfähigkeit von gelungenen Reformen abhängt (Bäcker 1997). Reformen sind nötig, weil sich der Wohlfahrtsstaat nicht nur in einer vorübergehenden Finanzkrise befindet, sondern seine Grundlagen und Problembezüge dauerhaft verändert werden. Die alten Zusammenhänge zwischen Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Wohlfahrtsentwicklung lösen sich auf. Dies hat nicht zuletzt auch technologische Ursachen. Das Ende der industriellen Massenproduktion und die neuen Anforderungen der Informationsgesellschaft steigerten die Qualifikationserfordernisse der Beschäftigten. Zugleich stieg die Arbeitsproduktivität so stark, daß in vielen Industriesektoren vor allem gering qualifizierte Arbeitskäfte überflüssig wurden. Sie bilden nicht wie früher eine konjunkturelle Reservearmee, die in der nächsten Wachstumsphase schnell reaktiviert werden könnte. Im gegenwärtigen Strukturwandel gehen in vielen Branchen dauerhaft Arbeitsplätze verloren, für die es andernorts keinen Ersatz gibt. Der Einklang von ökonomischen Wachstums- und sozialen Gleichheitszielen, der die Nachkriegsentwicklung über Jahrzehnte hinweg geprägt hat, ist vor diesem Hintergrund nicht nur zeitweilig gestört, sondern ein für allemal zerstört. Im Zeitalter der Globalisierung ist der herkömmliche Wohlfahrtsstaat zur Last geworden, nicht zuletzt deshalb, weil er mit den Mobilitätsansprüchen und Differenzierungsbedürfnissen einer durch und durch technisierten und grenzenlosen Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft nicht Schritt hält.

    Notwendige Reformen sind infolge ihrer Umverteilungswirkungen politisch nur schwer zu bewerkstelligen. Hürden der Sozialreform gibt es nicht nur in ausgebauten Wohlfahrtsstaaten wie Deutschland. Auch in den USA waren progressive Neuerungen, wie zum Beispiel die Einführung einer gesetzlichen Krankenversicherung, politisch nicht durchsetzbar (Pierson 1995). Auch sie scheiterten am Widerspruch der durch Umverteilung negativ bedrohten Gruppen. Die Geschichte des Wohlfahrtsstaates lehrt: Besonders in Zeiten knapper Kassen brauchen sozialpolitische Reformen wegen ihrer Umverteilungswirkung eine durchsetzungskräftige Regierung, die Interessengruppeneinflüssen widersteht oder sie zumindest ausbalancieren kann. Nötig ist zudem der richtige Zeitpunkt. In Demokratien muß eine Sozialreform rechtzeitig vor den nächsten Wahlen gemacht werden, damit die Regierung eine Chance erhält, vermeintliche Verlierer der Reform als Wähler zurückzugewinnen.

 

Literatur