Roland Czada, Fernuniversität Hagen, LG Politikfeldanalyse und Verwaltungswissenschaft, September 1998

Vortrag auf der Tagung "Kooperative Politikverfahren", Universität Witten-Herdecke, 8.-10. Okt. 1998

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Kooperation als Entdeckungsverfahren

Es gibt mannigfaltige Formen des Austausches und der Konfliktregelung jenseits von Markt und Staat. Gemeint sind gesellschaftliche und ökonomische Koordinationsinstanzen, die weder durch Befehlshierarchien noch durch sozialevolutorische Wettbewerbsmechanismen gesteuert werden. Sie unterliegen vielmehr einem Kooperationsprinzip. Ein Beispiel wären Verbände mit freiwilliger Mitgliedschaft. Ebenso kann es sich um Netzwerke korporativer Akteure handeln. Wie Wettbewerbsmärkte folgen auch Kooperationsbeziehungen einer rationalen Austauschlogik. Anders als im idealen Wettbewerbsmodell des "survival of the fittest" besteht aber ein Interesse aller Beteiligten an der Prosperität ihrer Transaktionspartner. Solche institutionelle Koordinationsmuster sind in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft weit verbreitet. Sie sind vor allem als ein Beitrag zur Stabilisierung von Gemeinschaftshandeln untersucht worden. Die Wirtschaftswissenschaften betrachten sie hingegen als wachstumshemmende Kartelle. Die positive Bedeutung kooperativer Selbstorganisation für die Innovation und Diffusion von Neuerungen blieb weitgehend unbeachtet. Ich möchte diesen Zusammenhang in den Mittelpunkt meines Vortrages stellen.

Handlungsformen jenseits von Markt und Staat

Am 5. Juli 1968 hielt Friedrich August Hayek am Institut für Weltwirtschaft in Kiel erstmals seinen berühmten Vortrag "Wettbewerb als Entdeckungsverfahren", der in viele Sprachen übersetzt und vielfach nachgedruckt wurde. Er entwickelt darin ein Bild des Marktes als Instrument zur Selektion von Wissen. Es scheint nicht übertrieben festzustellen, daß er damit eines der mächtigsten Argumente für die Wettbewerbswirtschaft und gegen jede Form der Wirtschaftslenkung entwickelt hat. Damals herrschten, wie Hayek selbst berichtet, Auffassungen vor, welche die Existenz eines wirksamen Wettbewerbs negierten oder sogar zu der Annahme neigten, die Allokationsfunktion des Marktes könne schrittweise durch planerische Eingriffe ersetzt und verbessert werden.

Hayeks Vorgehen basiert auf der Alternative von Markt und Staat. Es gibt nur Wettbewerb oder Hierarchie, Freiheit oder Sozialismus. Auf Grundlage dieser kategorialen Gegenüberstellung entfaltet er sein Argument über die Vorzüge des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren. Hayeks Wettbewerbstheorie ist nicht nur gegen wirtschaftswissenschaftliche Paradigmen – Preistheorie, Keynesianismus etc. – gerichtet. Sein Aufsatz war auch ein politisches Pamphlet. Er richtete sich gegen die auch im Westen geläufigen Ansätze staatlicher Wirtschaftsteuerung und gegen eine um sich greifende politische Planungseuphorie. Er entsprach ganz der wissenschaftlichen und politischen Debatte seiner Zeit. Ihr fehlte jegliche Sensibilität für die fein nuancierten politisch-ökonomischen Koordinationsformen zwischen den Extremen von Hierarchie und Wettbewerb. Diese aber – so werde ich argumentieren - bewältigen seit jeher die Masse der Koordinationsaufgaben einer Gesellschaft.

Die Wissenschaft hat den Formenreichtum institutioneller Koordination zwischen Hierarchie und Wettbewerb erst seit den siebziger Jahren (wieder)entdeckt, beschrieben und analysiert. In der Politikwissenschaft entwickelte sich die gegen das pluralistische Wettbewerbsmodell gerichtete Korporatismustheorie (Lehmbruch 1974, zusammenfassend: Czada 1995). Hinzu trat eine Debatte um den "kooperativen Staat" (Ritter 1979, Benz 1997) als Gegenbild zum hierarchischen Politik- und Verwaltungsmodell. Die Rechtswissenschaft kümmerte sich verstärkt um die mannigfaltigen, vielfach abgestuften Organisationsgebilde zwischen hoheitlicher Staatsverwaltung und privaten Wirtschaftsunternehmen (Schuppert 1981). Die theoretische Entwicklung war in diesen Wissenschaften überwiegend von der Empirie geleitet. Es wurde offenkundig, daß weder ein pluralistisches Kräftegleichgewicht, noch die Aggregation von Präferenzen in Wahlen und Abstimmungen politische und administrative Prozesse erklären konnten. Ebenso war deutlich zu sehen, daß eben nicht eine hierarchisch strukturierte Staatsverwaltung einerseits und über den Markt koordinierte private Wirtschaftsunternehmen andererseits die vorherrschenden "governance"-Typen bildeten, sondern Mischformen, die weder den Idealen der Staatslehre noch denen der neoklassischen Gleichgewichtsökonomie entsprachen.

In den Wirtschaftswissenschaften führte die rasante Entwicklung der Transaktionskostenökonomik zur Entdeckung "hybrider" Steuerungsformen zwischen Hierarchie und Markt (Williamson 1985). Der entscheidende Beitrag der Transaktionskostenansatzes zur Erklärung von Koordinationsinstitutionen besteht darin, daß er die Berechenbarkeit der beteiligten Akteure und die Verläßlichkeit ihrer Beziehungen als ein zentrales Problem ansieht.

Die Politikwissenschschaft hat neuerdings den Grundgedanken des Transaktionskostenansatzes aufgenommen und daraus eine "governance"-Typologie entwickelt. Demnach fungieren neben Märkten, öffentlichen und privaten Hierarchien (Staat und Unternehmen) Verbände und soziale Netzwerke als basale Koordinationsinstitutionen moderner Industriegesellschaften (Streeck/Schmitter 1985). Gemeint sind Formen der Konfliktregelung und des Austausches, die "am Staat vorbei" (Ronge 1980) oder im Einklang mit staatlichen Vertretungs-, Entscheidungs- und Verwaltungsstrukturen (Czada 1991) zur Legitimation und Steuerung eines politischen Gemeinwesens beitragen. Ausweislich der international vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung bestimmen solche Institutionen gesellschaftlicher Konfliktregelung in entscheidendem Maße über die Wohlfahrt eines Landes (Schmidt 1983, Lange/Garrett 19xx, Katzenstein 1985, Scharpf 1987). Sie sind geeignet, die Erfordernisse politischer Stabilität und die Notwendigkeiten gesellschaftlichen und ökonomischen Wandels in eine Balance zu bringen. So zeigte sich, daß die ökonomische Anpassungsflexibilität zum Beispiel der Lohnentwicklung in korporatistischen Systemen in den siebziger und achtziger Jahren nicht generell geringer war als in solchen mit geringerem Gewerkschaftseinfluß (Czada 1983, 1987). Freilich erwiesen sich kooperative Problemlösungen als höchst voraussetzungsvolle, von fragilen politischen Arrangements abhängige Alternativen zur Marktsteuerung. Ihr dauerhafter Erfolg gilt als zweifelhaft (vgl. Czada 1995). Alle bekannten historischen Kooperationsmodelle von politischen Konkurrenten sind – sofern sie nicht in hierarchische Unterordnung oder Zusammenschluß mündeten - früher oder später in Krisenphasen geraten oder zumindest vorübergehend gescheitert. Dies läßt sich an der Geschichte korporatistischer Arrangements von der Zentralarbeitsgemeinschaft (ZAG) des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes und der Arbeitgeber im Jahr 1919 über die Konzertierte Aktion des Jahres 1968 bis in die heutige Zeit beobachten. Es gilt für das schwedische Modell, die soziale Programmierung in Belgien, den historischen Kompromiß in Italien, die "kombiniert opjöhr" in Norwegen, wiederholte Versuche eines Social Compact in Großbritannien, das Pay Board in den USA ebenso wie für das Auf und Ab der Sozialpartnerschaft in Holland (Visser/Hemerijk 1998).

Die Instabilität und Verletzlichkeit der Kooperationsbeziehungen kann durch institutionelle Vorkehrungen gemildert werden. So hat die Korporatismusforschung gezeigt, daß Strukturmerkmale der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, die Struktur der Tarifverhandlungen ebenso wie gesetzliche Rahmenbedingungen die Stabilität sozialpartnerschaftlicher Arrangements erhöhen können. Dies ändert aber nichts am Grundsatz, daß auf Freiwilligkeit beruhende Kooperationsbeziehungen stets fragil bleiben und daher ständiger Gespräche und Bemühungen bedürfen. Vor diesem Hintergrund sind Rückschläge nahezu unvermeidbar; ebenso wie daraus resultierenende Lerneffekte. Dies entspricht ganz der Beobachtung von Konjunkturen der Kooperation, die stets dann auftreten, wenn politische Konkurrenten in Koalitionen zusammenarbeiten. Solche Kooperationsstrukuren können als mikroanalytisch fundierte - aus strategischer Interaktion erklärbare - dynamische Systeme betrachtet werden (vgl. Coleman 1986). An diesem Punkt setzt nun eine Überlegung ein, welche die Störanfälligkeit kooperativer Problemlösungen nicht als Nachteil, sondern als Vorteil bei der Entdeckung und Erprobung neuer politischer Verhaltens- und Steuerungsvarianten betrachtet.

Zum Innovationspotential kooperativer Beziehungsnetzwerke

Viktor Vanberg (1982) hat die überragende Bedeutung von Kooperation für die Herstellung von Gütern und zugleich ihre Verletzlichkeit bei der Verteilung von Kooperationserträgen hervorgehoben. Damit verdeutlicht er einerseits die Grenzen des Marktes als Allokationsinstanz, andererseits das Stabilitätsdilemma institutioneller und politischer Konfliktregelung. Grundsätzlich scheint der Bestand jeder kooperativen Beziehung von Verteilungskonflikten bedroht zu sein. Selbst solche Kooperationen, die von dauerhafter wechselseitiger Interessenbefriedigung zu Lasten Dritter genährt werden, sind vor der Versuchung einzelner Beteiligter nicht gefeit, einen höheren Anteil am Kooperationsertrag herauszupressen. Es ist eine spezifische Unsicherheit, die Kooperationsbeziehungen belastet. Kooperationspartner sind – anders als Marktteilnehmer - einer besonderen Form strategischer Unsicherheit ausgesetzt. Wer am Markt teilnimmt, dort kaufen oder verkaufen möchte, hat demgegenüber vor allem mit Informationsunsicherheit zu tun: Was wollen die Kunden, wo gibt es das beste Angebot oder die beste Nachfragesituation, wie entwickeln sich die Märkte und Preise? Kooperationspartner fragen demgegenüber: Kann ich meinem Gegenüber vertrauen, wird er meine Vorleistungen durch weitere Kooperation honorieren, wie kann ich sein Verhalten beeinflussen, ihn überwachen und, wenn nötig, strafen?

Was bedeuten diese unterschiedlichen Formen der Unsicherheit für die Innovationstüchtigkeit, Lernperformanz und Anpassungsfähigkeit von sozialen Strukturen? Die Antwort der Ökonomie auf die Informationsunsicherheit des Marktes besteht in der Optimierung von Suchkosten. Die Suche nach jeder zusätzlichen Information darf nicht mehr kosten als ein dadurch erzielbarer Marktvorteil. Wie wertvoll eine Information – dazu zählt im ökonomischen Sinne auch Intuition oder Erfindung – tatsächlich ist, kann sich freilich erst dann erweisen, wenn sie in Gestalt eines fertigen Produktes in den Marktprozeß einfließt. So gesehen setzen sich letztlich nicht Produkte, sondern überlegene Informationen und die besten Ideen am Markt durch. Der über den Wettbewerb vermittelte Zwang zur Informationsverbesserung und zur Kreativität begründet den Effizienzvorsprung der Marktallokation über alle anderen Formen der Generierung und Vermittlung von Wissen. Dies ist der Kern von Hayeks Verteidigung des Wettbewerbs.

Das einzig interessante am Wettbewerb, so sagt Hayek (1968, 3), " besteht darin, "daß seine Ergebnisse unvoraussagbar und im ganzen verschieden von jenen sind, die irgend jemand bewußt anstreben hätte können sowie auch, daß er gewisse Absichten vereitelt und gewisse Erwartungen enttäuscht". Beides, der Vorstoß auf unbekanntes Terrain und die Bestrafung erfolgloser solcher Vorstöße, hängt eng miteinander zusammen. Der Wettbewerb zeigt nämlich nicht nur, wie die Dinge besser gemacht werden können – er zwingt zugleich alle Beteiligten bei Strafe des Unterganges, diese Verbesserungen nachzuahmen (vgl. ebenda, 15). Dadurch profitieren nicht nur die zuerst Erfolgreichen, sondern soziale Systeme insgesamt von Wettbewerbsstrukturen.

Die Unvorhersagbarkeit der Ergebnisse und die jederzeit mögliche Enttäuschung von Erwartungen sind laut Hayek eine Grundvoraussetzung der Entdeckung neuen Wissens. Dies ist nun aber keineswegs ausschließlich ein Spezifikum von Wettbewerbsstrukturen. Kooperationsbeziehungen sind gleichermaßen von Unvorhersagbarkeit und Enttäuschungsrisiken belastet. Man könnte in der Tat an etlichen Stellen in Hayeks Vortrag den Begriff Wettbewerb durch Kooperation ersetzen, ohne daß dadurch Plausibilität verloren ginge oder selbst ein kritisches Auditorium zum Widerspruch gereizt würde. Daß durch Kooperation Problemlösungswissen erzeugt wird, ist eine in der Innovationsforschung ebenso wie in Lerntheorien geläufige Erkenntnis. Die Innovationsforschung geht soweit, zu sagen, daß Kooperation innovative Problemlösungen hervorbringen kann, die unter Wettbewerbsbedingungen gerade nicht entdeckt werden oder zur Anwendung kommen können (Hippel 1988; Dosi 1988; Jorde/Teece 1992; Sabel 1994). Wie verhält sich ein solcher Befund zu Hayeks bahnbrechendem Beitrag über die Wirkungsweise von Wettbewerbsstrukturen?

Die Natur der Innovation hat sich - darin ist sich die Innovationstheorie einig - mit zunehmender technischer Komplexität und sozialer Differenzierung verändert. Aus einem herkömmlich "seriellen", stufenweisen Prozeß entwickelte sich ein simultan vernetztes komplexes Geschehen. Das serielle Modell betrachtet Innovation als einen vertikal integrierbaren Prozeß: Ein Unternehmen macht ausschließlich im eigenen Organisationsbereich eine Erfindung und vermarket sie. So entwickelte die BASF das Aspirin, auf das ihr Gründer zufällig gestoßen war, und Dupont das Nylon. Beide Produkte konnten sich gegen eine Vielzahl ähnlicher, aber letztlich weniger guter auf Dauer durchsetzten. Demgegenüber geht das simultane Modell von vielfältig überlappenden Aktivitäten aus mit Koordinations- und Rückkoppelungserfordernissen, die rasch und effizient nur in direkter Kommunikation zwischen Firmen, in Firmen und zwischen Firmen und anderen Organisationen wie Universitäten erfüllt werden können. Kurz: Innovation ist ein Vorgang gezielter Suche geworden und bedarf daher zunehmend komplexerer Organisationsformen. Dies ist einer der Gründe, den Ökonomen anführen, wenn sie die kartelltheoretische "anti-trust" Sichtweise der Kooperation kritisieren und mehr vorwettbewerbliche Zusammenarbeit zwischen Konkurrenten fordern (vgl. Jorde/Teece 1992, Williamson 1992).

Obwohl Innovationstheorien die Vorzüge der Kooperation gegenüber Wettbewerbsstrukturen hervorheben, sieht es nicht so aus, also ob hier ein prinzipeller Einwand oder gar ein Gegenmodell zu Hayeks "Wettbewerb als Entdeckungsverfahren" entwickelt würde. Dies liegt daran, daß sie auf Skalen- und Synergieeffekte, auf Ersparnisse durch die Verhinderung von Duplikation, abheben. Ihre Modelle beziehen sich allein auf die Effizienz der Organisation von Forschung, nicht aber wie Hayek auf die Anreiz- und Selektionsmechanismen im Prozeß der Wissensgenerierung. Alle Argumente für die horizontale Forschungskooperation von Unternehmen lassen sich mit wirtschaftswissenschaftlichem Standardwissen erklären und rechtfertigen, solange sie im Schatten des Wettbewerbes lediglich zum Zweck der Kostenersparnis unternommen werden. Eine Herausforderung für Hayeks Theorie wären solche Kooperationsnetzwerke allenfalls dann, wenn in ihnen systematisch Problemlösungswissen generiert würde, ohne daß dem eine von Wettbewerbsverhältnissen diktierte Überlebensstrategie zugrunde läge. Diesen Fall wird man nur außerhalb des Geltungsbereichs von Märkten, also im Bereich politischer Kooperation erwarten dürfen. Die Frage kooperativer Entdeckungsverfahren stellt sich hier in erster Linie bei der Herstellung von politischem Steuerungswissen. Dabei geht es um die Suche nach legitimitätsstiftenden und zugleich praktizierbaren Lösungsalternativen für Kollektivgutprobleme und Verteilungskonflikte.

Kooperation und institutionelles Lernen in der Politikentwicklung

Studien kooperativen Verwaltungshandelns (Treuttner/Wolf 1978, Ritter 1990, Benz 1994, Voigt 1995) zeigen, daß Verwaltungsbehörden häufig die informelle Kooperation mit Vollzugsadressaten suchen, um Wissenslücken aufzufüllen. Solche Kooperationsbeziehungen dienen auch der Herausbildung sachadäquater gemeinsamer Situationsdeutungen.

Die Problemlösungsfähigkeit der Politik hängt oft entscheidend von der Gewinnung anwendbaren Steuerungswissens ab. Zwar gibt es meist gibt es keinen Mangel an Ideen und Konzepten. Zum Beispiel finden sich in der deutschen Vereinigungspolitik eine Fülle von Ratschlägen und praktischen Innovationen, insbesondere auf der operativen Ebene des Vereinigungsmanagements. Das Problem bestand vielmehr in Inkompatibilitäten vereinzelter Neuerungen und in der Konfliktintensität bei der Auswahl von kollektiv verbindlichen Lösungen. Hinzu traten Informationsprobleme. Die Politikformulierung und -implementation stößt in diesem Zusammenhang auf zwei Hindernisse: 1. Informationsasymmetrien im Akteursystem; 2. Unsicherheiten angesichts turbulenter Problemumwelten.

Informationsasymmetrien bestehen zwischen zentralen Steuerungsinstanzen und der dezentralen Impementationsebene, zwischen der politischen Spitze und den Akteuren vor Ort, ebenso wie zwischen diesen und den Adressaten politischer Steuerung. In einer solchen von Konflikten durchsetzten Mehrebenenstruktur stößt die Herstellung gemeinsamen Wissens auf gravierende Probleme. So sind die Akteure auf der operativen Verwaltungsebene daran interessiert, ihre Wissensvorsprünge gegenüber der politischen Spitze zu erhalten. Dasselbe gilt für Vollzugsadressaten gegenüber Vollzugsbehörden. Um hier auf dem Wege der Zusammenarbeit neues Steuerungswissen zu generieren, müssen offenkundig Kooperationsanreize vorhanden sein.

Sachliche Unsicherheit herrscht gegenüber einer neuen Herausforderung, zu deren Lösung keine bekannten oder gar bewährten politischen Programme zur Verfügung stehen. Solche Situationen unsicherer Situationsdeutung gehen einher mit Präferenzunsicherheiten der Akteure. Für sie besteht nicht nur ein Zwang, neue Problemlösungen zu finden, sondern auch, sich eine adäquate Wirklichkeitsdeutung anzueignen. Am Beispiel der Vereinigungspolitik, aber auch anderer Politikfelder, kann gezeigt werden, daß sachliche Unsicherheit, wenn sie in einem Akteursystem gleich verteilt ist, einen mächtigen Anreiz zur Kooperation, insbesondere zum Austausch von Wissen schafft.

Die anfängliche Vereinigungspolitik war von Informationsasymmetrien und Unsicherheit stark belastet. Generell behinderten sie den Erfolg politischer Steuerungsbemühungen um so mehr, je häufiger sich bei den Steuerungsadressaten vor Ort neue unvorhersehbare Situationen einstellen, auf die sie – um sich bietende Chancen wahrzunehmen oder um drohende Gefahren abzuwenden – schnell reagieren möchten. Verfügen sie zudem über einen gewissen Erfindungsreichtum bei der Erprobung neuer, für sie erfolgversprechender Handlungsalternativen, sinken die Chancen steuernder Intervention weiter. Die Frage wäre also, wie in einer von Überraschungen und Unübersichtlichkeit geprägten Situation eine politische Koordination dezentraler Akteure möglich ist.

Dezentrales, von situativen Problemsichten getragenes autonomes Handeln vor Ort ermöglicht zwar rasche Anpassungen an veränderte Umweltbedingungen. Dies wäre ein marktähnlicher Prozeß, in dem sich vereinzelte Akteure nach eigenen Kalkülen auf neue Situationen einstellen. In der Politik hat die dezentrale Problembearbeitung ihre Grenze dort, wo sie, erstens, die Fähigkeit zu kollektiven, Problemlösungen verhindert und, zweitens, durch den Verlust von Erwartungssicherheit die Legitimationsgrundlagen von politischen Gemeinwesen schmälert. Dezentrale Anpassungsreaktionen führen zu abnehmender Bindung im politischen Akteursystem und verursachen Inkompatibilitäten zwischen Teillösungen. Letztlich drohen nicht nur Koordinationsdefizite, sondern der Verlust von Berechenbarkeit und sozialer Ordnung; vor allem dann, wenn sich Akteure unter situativem Handlungsdruck ständig über etablierte Regeln des Zusammenlebens hinwegsetzen. Das Problem stellt sich verschärft, wenn rasches, situativ bedingtes lokales Handeln irreversible Folgen zeitigt, die auf längere Sicht unübersehbar sind.

Die Entwicklung der Vereinigungspolitik wie auch anderer von Umweltturbulenz und sachlicher Unsicherheit geprägter Politikbereiche aus dem Bemühen zu erklären, die angesichts neuer Problemlagen notwendige Flexibilität des Handelns zu erlangen, ohne den Vorteil strategischer Berechenbarkeit aufzugeben. Dies gelang im Verlauf institutionell gesteuerter kollektiver Lernprozesse, in denen sich handlungsleitende Situationsdeutungen der veränderten Lage schrittweise annähern konnten. Dabei wuchs nicht nur der Realitätsgehalt neuer Problemsichten. Zugleich gewannen die beteiligten Akteure jene innere Handlungskompetenz und nach außen gerichtete Kooperationsfähigkeit, die sie zur Lösung gemeinsam erkannter Probleme brauchten.

Gängige Entscheidungstheorien behandeln die Frage, wie sich einzelne Entscheidungsträger verhalten, wenn sich ihr Modell der Welt als falsch herausstellt (Axelrod 1984; Vanberg 1993). Verändern sich in solchen Vorgängen der Umweltanpassung einzelner isolierter Handlungseinheiten, so sind damit nicht zugleich auch ganze Akteurstrukturen und soziale Regelsysteme positiv angepaßt. Die Stabilität und der Erfolg kooperativer politischer Problemlösungen hängt von der Fähigkeit der maßgeblichen Akteure ab, gegebenenfalls auf rasche eigene Problemlösungen zu verzichten und stattdessen gemeinsam zu lernen, wie sie umfassenden Problemlagen, die alle Akteure eines Systems betreffen, adäquat begegnen können. Diese Fähigkeit scheint mit dem Schwierigkeitsgrad eines gemeinsamen Problems zuzunehmen, weil die Konfrontation mit gänzlich neuen Sachverhalten das Festhalten an herkömmlichen Handlungsprogrammen begünstigt und insofern eine aus Kalkulationsunsicherheit resultierende Verzögerung rascher Anpassungsreaktionen eintritt.

Es gibt im Prinzip nur drei Möglichkeiten, auf unvorhergesehene Herausforderungen, wie sie die deutsche Vereinigung darstellt, zu reagieren. Die erste entspricht der entscheidungstheoretischen Lösung von Heiner (1983). Die Möglichkeiten 2 und 3 betreffen politische Problemlösungen und Regelanpassungen, die Lernprozesse bei den Beteiligten voraussetzen (vgl. Abbildung 1):
 

1. Regelorientierung: Die einfachste und naheliegendste Antwort auf plötzliche Veränderungen der Problemumwelt besteht darin, an herkömmlichen Situationsdeutungen, politischen Instrumenten und Programmen festzuhalten. Die Institutionen bleiben dabei stabil und die Akteure berechenbar. Problemadäquate, innovative Problemlösungen würden freilich auf diese Weise behindert, wenn nicht gar unmöglich.

2. Individuelle Fehlerbearbeitung: Die direkt Beteiligten können versuchen, sich geradewegs und vereinzelt auf eine neue Problemlage einzustellen, um so rasche Lernerfolge und Anpassungsleistungen zu erzielen. Reagieren sie isoliert und unmittelbar auf veränderte Anforderungen ihrer Problemumwelt, droht allerdings der Verlust des institutionellen Gleichgewichts.

3. Kooperatives Lernen: Die dritte Möglichkeit besteht in der auf nichthierarchischem Wege koordinierten Anpassung an eine neue Problemlage. Allerdings setzt dies den (im Rahmen institutioneller Anreizstrukturen) freiwilligen Verzicht auf eigenständige Problemlösungsversuche jedes einzelnen Akteurs zugunsten der Herausbildung neuer kollektiver Situationsdeutungen und gemeinsamer Problemlösungen voraus. Der Vorteil liegt in einem angesichts der Umbruchsituation größtmöglichen Erhalt der Integrität des Akteursystems – mit allen Folgen für dessen künftige kollektive Handlungsfähigkeit, die damit verbunden sind. Diese Art der Problembearbeitung, die Regelanpassungen aufgrund veränderter Situationsdeutungen einschließt, könnte als kooperatives Lernen in Institutionen bezeichnet werden.

Die Vereinigungspolitik läßt vermuten, daß die Variante des kooperativen Lernens vor allem dann wahrscheinlich wird, wenn die sachliche Unsicherheit im Akteursystem ansteigt und in etwa gleich verteilt ist, also gemeinsames Nichtwissen über künftige Entwicklungen vorliegt, wenn zudem der Erfolgsdruck für alle Beteiligten sehr groß ist und außerdem die Beziehungen der maßgeblichen Akteure von starker Interdependenz geprägt sowie herkömmlich kooperativ sind. Die Wechselbeziehung von sachlicher Unsicherheit in der Problemumwelt und strategischer Unsicherheit im Akteursystem ist hier entscheidend. Unter dem Eindruck »grenzenloser Überforderung« und wechselseitiger Abhängigkeit erlebten die Beteiligten den marktwirtschaftlichen Aufbau Ost als einen Kampf an zwei Fronten. Um gegen die von irreduziblen Risiken beherrschte dynamische Natur der ökonomischen Prozesse bestehen zu können, schufen sich die maßgeblichen Akteure Entlastung, indem sie ihre strategische Unsicherheit durch die Schaffung und Erhaltung kooperationsfreundlicher Strukturen – Netzwerken der Vereinigungs- und Transformationspolitik – begrenzten. Daraus ließe sich – in spieltheoretischer Sprache – die generelle Hypothese einer Drift zur Kooperation in verbundenen Spielen ableiten, die zugleich gegen die ›Natur‹ und andere ›Spieler‹ gespielt werden.

Sachliche Unsicherheit, hoher Problemdruck, komplexe Konfliktstrukturen, Präferenzunsicherheiten und überlappende Zugehörigkeiten im Akteursystem erscheinen als die wesentlichen Determinanten kooperativen politischen Handelns. Die Vereinigungspolitik besteht über weite Strecken nicht aus Verhandlungen, in denen feste Präferenzen aufeinandertreffen, sonden Lernprozesse, aus denen neue Präferenzen und Problemlösungen hervorgehen. Dabei entstehen Situationsdeutungen, auf deren Grundlage erst jene Interessen entstehen können, die in strategischen Beziehungen zum Ausdruck und auch zum Ausgleich kommen. Der Interessenausgleich wird grundsätzlich erleichtert, wenn die Beteiligten von gleichen Situationsdeutungen ausgehen (Scharpf 1979). Die Annäherung unterschiedlicher Lagebeurteilungen hängt vor allem davon ab, wie häufig und intensiv die mit einem bestimmten Problem befaßten Akteure zusammentreffen und sich über Lösungsmöglichkeiten verständigen. Die Netzwerke der Vereinigungspolitik (Czada 1993, 1994a, 1995) spielten in diesem Zusammenhang eine herausragende Rolle. Gegenüber der von strategischer Unsicherheit gekennzeicheten politischen Normallage geht es also bei der Bewältigung sachlicher Unsicherheit nicht in erster Linie um Konfliktregelung durch Verhandlungen, sondern um Kooperation zum Zwecke der Informationsverarbeitung.

Kooperatives Lernen basiert auf einigen Voraussetzung, die Hayek auch für Wettbewerbsmärkte anführt. Dies gilt besonders für die Annahme, daß Problemlösungswissen prinzipiell auf zahlreiche Akteure verteilt ist. Diese Annahme ist nicht selbstverständlich. Die Staatswissenschaften und die ältere Politikwissenschaft gingen davon aus, daß der Staat als Steuerungszentrum der Gesellschaft über Wissenbestände verfügt, die ihn von allen übrigen, mit fragmentiertem Wissen ausgestatteten gesellschaftlichen Akteuren abheben. In der Politikwissenschaft hat erst die Politikfeldanalyse in Auseinandersetzung mit der Planungseuphorie der sechziger und siebziger Jahre dieses Bild zurechtgerückt. Der Staat ist gewöhnlich kein besonders gut informierter korporativer Akteur. Dies gilt angesichts gesellschaftlicher Differenizerungsprozesse, zunehmender Komplexität von politischen Steuerungsmaterien und einem auf der Formulierungsbene der Politik fortschreitenden innerem wie äußerem Souveränitätsverlust umso mehr.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob kooperative Politik in Netzwerken anstelle aggregativer Willensbildung und hierarchischer Verwaltung ein neuartiges Phänomen darstellt. Zwar hat es den demokratisch kontrollierten, hierarchischen Verwaltungsstaat in seiner idealen Ausprägung nie gegeben. Es wäre falsch, hybride Koordinationmechanismen zwischen Hierarchie und Markt als etwas ganz neues zu betrachten. Gleichwohl ist gerade in den vergangenen Jahrzehnten ein säkularer Trend zur kooperativen Politikentwicklung in Mehrebenensystemen erkennbar, die von der lokalen Vollzugsebene bis zur Ebene internationaler Regime und supranationaler Regierungsinstanzen reichen können. Die zunehmende Beachtung dieser Verflechtungsformen ist demnach nicht als eine Entdeckung von etwas schon immer Vorhandenem zu bewerten. Vielmehr handelt es sich um einen von der Wirklichkeit gesellschaftlicher und staatlicher Entwicklung ausgehenden Untersuchungsgegenstand.

Die Informationsprobleme des Staates haben sich in diesem Jahrhundert beständig verschärft, während seine innere Differenzierung und seine Aufgaben zunahmen. Die Herausbildung des "kooperativen Staates" kann vor diesem entwicklungsgeschichtlichen Hintergrund erklärt werden. Hierzu abschließend drei Thesen:

  1. Neben der Differenzierung politischer Strukturen wuchs die sachliche Komplexität von Entscheidungsmaterien. Technische und ökonomische Problemumwelten der Politik erzeugen Unsicherheit, die durch wissenschaftliche Beratung kaum gemildert, in vielen Fragen infolge der Pluralisierung von Expertenwissen sogar weiter gesteigert wird. Probleme des Wohlfahrtsstaates und der Risikogesellschaft erfordern politische Entscheidungen, für die ausreichende Entscheidungsgrundlagen fehlen. Politisches Handeln ist daher heute mehr denn je als Handeln unter Unsicherheit begreifbar. Dabei handelt es sich nicht nur um Informationsunsicherheit bzw. begrenzte Möglichkeiten der Informationsverarbeitung im Sinne von "bounded rationality", sondern in vielfach auch um Präferenzunsicherheit angesichts neuartiger Herausforderungen.

  2.  
  3. Die Krise autokratischer und zentralistischer Prinzipien des Regierens hat ihre Ursache nicht nur in der wachsenden Lücke zwischen Aufgabenkomplexität und Steuerungswissen sowie in der quantitativen Zunahme und inneren Differenzierung politischer Organisationen. Zugleich spielen die generell abnehmenden ideologischen Bindung an Organisationsziele und -führungen zumindest in liberal-demokratischen Industriestaaten eine wichtige Rolle. Die Zahl politischer Akteure (Parteien, Verbände Regierungen), die keine sachliche Unsicherheit erfahren, weil sie sich im Besitz einer unumstößlichen ideologischen Wahrheit wähnen, geht zurück. Mit der Entideologisierung der Politik schwindet auch die Zahl derer, die sich auf Strategien der Dissoziation und Konfrontation einlassen. Entscheidungshandeln zielt daher weniger auf Ziel-Mittel-Relationen, die zur Verwirklichung fester, exogener Präferenzen bestimmt werden, sondern auf die Überwindung von Präferenzunsicherheit durch die Schaffung kollektiver Deutungsmuster.

  4. Der Ort politischer Entscheidungsfindung ist zunehmend unbestimmbar geworden. Je mehr sich der Staat in Ressorts und die Gesellschaft in funktionale Teilsysteme aufspalten, je mehr Politik im internationalen Rahmen stattfindet, je mehr institutionelle Akteure und Entscheidungsebenen also beteiligt sind, um so weniger sind die Ergebnisse der Politik einer bestimmten Regierungsinstanz zuschreibbar. Politik entsteht aus komplexen Kooperations- und Verhandlungsbeziehungen. In ihnen können nicht ausschließlich wechselseitige Interessen im Sinne der ökonomischen Kartelltheorie zu Lasten nicht beteiligter Dritter befriedigt werden. Häufig - besonders unter Bedingungen hochgradiger Unsicherheit - dienen solche Strukturen der Akkumulation und Verteilung von Problemlösungswissen sowie der kollektiven Situationsdeutung und Präferenzbildung gegenüber sachlichen Herausforderungen in der Problemumwelt.